Seit vier Monaten gehen hunderttausende indische Bäuer*innen täglich auf die Straße. Sie fühlen sich durch die Agrarreform des rechtskonservativen Premierministers Narendra Modi, durch die der staatliche Mindestpreis abgeschafft wird, in ihrer Existenz bedroht. Weltweit demonstrieren ausgewanderte Inder*innen für die Rechte ihrer Landsleute. Auch in Wien gab es im Dezember Proteste.
TEXT: JULIA PABST
Wo normalerweise täglich Millionen von Autos entlang rauschen, herrscht derzeit Stillstand: An der nördlichen Grenze zur indischen Hauptstadt Neu-Delhi endet die Autobahn abrupt und wird von Barrikaden der Polizei abgelöst. Dahinter parken tausende Trucks und Traktoren – mit ihnen sind die protestierenden Bäuer*innen angereist. Seit 12. Dezember blockieren sie mit ihren Fahrzeugen die sogenannten Singhu-Grenze zwischen der Region Neu-Delhi und Haryana.
Unter ihnen ist auch Jaswinder Singh. Der Mann mit schwarzem Vollbart und blauem Turban ist aus dem mehr als 400 Kilometer entfernten Bundesstaat Punjab angereist. Gemeinsam mit Hunderttausenden anderen fordert er, dass die Modi-Regierung ihre umstrittene Agrarreform zurückzieht. "Die von der Regierung als 'bauernfreundlich' gepriesenen Gesetze schaden uns sehr. Sie werden uns in den Ruin treiben", sagt er.
Als Übersetzer des schriftlichen Interviews mit amrand.at dient Jaswinders Neffe Gursevan. Er lebt in Österreich und leitet die Protestbewegung in Wien. "Die Demonstrationen laufen schon seit mehreren Monaten. Als sich die Bauern dann dazu entschlossen haben, nach Neu-Delhi zu kommen, wurde das Problem weltweit erkannt", sagt Gursevan. Er organisierte am 12. Dezember eine Auto-Demo in Wien, um auf die Proteste in Indien aufmerksam zu machen.
Jaswinder Singh (rechts) mit einem weiteren Demonstranten bei den Bauernprotesten in Neu-Delhi. (c) beigestellt
Die Gesetze
Im September verabschiedete die indische Regierung eine Landwirtschaftsreform, um den Agrarmarkt zu liberalisieren. Die neuen Regelungen betreffen die ganze Wertschöpfungskette, angefangen beim Anbau, über den Verkauf, bis hin zur Lagerung von Reis, Getreide und Co. Gab es früher lizensierte Zwischenhändler, die den Bäuer*innen ihre Produkte für einen staatlich regulierten Mindestpreis abkauften, müssen die Bäuer*innen nun direkt mit Großkonzernen verhandeln. Der Mindestpreis fällt weg. Laut Gursevan trifft das die Bäuer*innen besonders hart: "Sie haben gegen die Großkonzerne keine Chance. Die werden die vorgefertigten Verträge und ihre Geschäftsbedingungen nicht verstehen." Zudem dienten die Zwischenhändler bisher auch als menschliche Geldautomaten. Brauchten die Bauern Geld, verkauften sie einen Teil ihrer Ernte. Fällt dieses System weg, kommen sie nicht mehr an Bargeld.
Jaswinder fürchtet, dass er seine Ware zukünftig billiger verkaufen muss: "Die Konzerne werden uns nicht nur unter Druck setzen und uns zwingen, unsere Ware zu Spottpreisen zu verkaufen, sie werden uns auch zu Leiharbeitern auf unseren eigenen Feldern machen." Gibt es bei den Verträgen Streitigkeiten, sollen Beamt*innen zwischen den Parteien vermitteln. Während sich Großunternehmen gut ausgebildete Verhandler*innen leisten können, müssen sich die Bäuer*innen selbst vertreten. Der Zugang zum Gericht wird durch die Reform erschwert. Von der Regierung bekommen die Bäuer*innen bei Rechtsstreitigkeiten keine Unterstützung.
Bei den Protesten machen alle Altersgruppen mit. (c) beigestellt
Modi-Regime
Seitdem Premierminister Narendra Modi 2014 sein Amt antrat, ist seine Regierung weit nach rechts abgedriftet. Menschenrechtsorganisationen berichten von unterdrückten Minderheiten und einem Rückgang der Pressefreiheit. Kritik an seiner hindu-nationalistischen Bharatiya-Janata-Partei tut er als „anti-indisch“ ab. „In Wahrheit handelt es sich bei diesem Land um die größte Schein-Demokratie der Welt. Alle demokratischen Prinzipien werden hier ignoriert“, sagt Jaswinder. Bäuer*innen stellen in Indien die Hälfte der Arbeitskräfte. Mit ihrem Streik setzen sie die Regierung zunehmend unter Druck.
Die Agrarreform soll undemokratisch zustande gekommen sein, berichtet Gursevan. Die Bäuer*innen seien nicht miteinbezogen worden, die Wünsche der Agrarlobby hingegen wurden berücksichtigt. „Die Regierung hilft mit der Gesetzesnovelle drei bis vier Multimillionärs-Familien. Diese Familien haben der Partei mit finanziellen Mitteln dabei geholfen, Wählerstimmen zu akquirieren“, erklärt er.
Auch Frauen spielen bei den Protesten eine große Rolle. (c) beigestellt
Auf einer Bühne halten die Demonstrant*innen Reden, eine Freiluftküche bietet tagsüber Essen. Einige Trucks schenken heißen Tee und Kheer, indischen Pudding, aus. Zwischen den Autos wurden in wasserfesten Zelten Salons aufgebaut, Männer sitzen darin auf Pölstern am Boden. „Seit dem ersten Tag protestieren wir friedlich. Alle Protestführer bitten die Teilnehmer immer wieder, Ruhe zu bewahren und der Exekutive keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten“, sagt Jaswinder.
Die Polizei reagiert mit Tränengas und Wasserwerfern. Als sich die Karawane vor zwei Wochen auf den Weg machte, wollten die Behörden den Protest mit allen Mitteln verhindern, erzählt Jaswinder: „Sie schlugen mit Stöcken über die Barrikaden auf uns ein. Einige meiner Freunde mussten zurück transportiert werden, da sie durch Polizeigewalt schwere Verletzungen davongetragen haben, bis hin zu Knochenbrüchen.“ Für die Demonstrant*innen war die Reise in die Hauptstadt eine Odyssee. Vor allem die kalten Temperaturen machten Jaswinder zu schaffen: „Es war für uns sehr schwierig, nach Delhi zu gelangen, vor allem in dieser Kälte. Wir wussten auch nicht, was uns erwarten würde. Wir wussten nur, dass wir uns für unser Recht einsetzen müssen, sonst werden wir es nicht überleben.“
Kampf ums Überleben
Schon jetzt arbeiten die Bäuer*innen unter prekären Bedingungen. Viele können auch mit den staatlichen Mindestpreisen ihre Kosten nicht decken. „Wegen ihrer finanziellen Situation begehen jährlich zehntausende Bauern Suizid. Sie können ihre enorm große Schuldenlast nicht mehr stemmen und sehen keinen anderen Ausweg“, sagt Jaswinder. In den letzten zehn Jahren haben über 140.000 indische Bäuer*innen Suizid begangen. 2019 kam es zu mehr als 10.000 Fällen. „Die Bauern haben keine Möglichkeit, einen anderen Job zu finden. Es gibt keinen strukturierten Jobmarkt in den nördlichen Regionen. Wenn die Landwirtschaft nicht funktioniert, gibt es dort nichts mehr“, sagt Gursevan.
Die Bäuern*innen harren in der Kälte aus. (c) beigestellt
Die Corona-Krise verschärft die Probleme der Bäuer*innen zusätzlich. Fast ein Viertel der Bevölkerung des Bundesstaats Punjab war oder ist mit COVID-19 infiziert. In manchen Städten liegt die Infektionsrate bei über 50%. Bei den Protesten tragen trotzdem kaum Bäuer*innen Masken. "Die Leute hier haben Angst, ob sie in
Zukunft überhaupt etwas zu essen bekommen, ob sie ihre Familien ernähren können oder ob unsere Kinder im nächsten Winter verhungern werden. Ob wir an Corona sterben wissen wir nicht, aber wegen dieser Gesetze werden wir verhungern", sagt Jaswinder.
Seit mehr als 20 Tagen protestieren die Bäuer*innen nun schon an der Singhu-Grenze. Ein Rückzug ist noch nicht in Sicht, stattdessen strömen immer mehr Unterstützer*innen dazu. Und das trotz der niedrigen Temperaturen. Bereits 25 Demonstrant*innen sind in den letzten Wochen verstorben, viele aufgrund der Kälte.
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