Seit etwas mehr als fünf Jahren lebt Zaki Danesch in Österreich. Der Afghane floh 2015 über das Mittelmeer nach Europa. Eine Geschichte von Flucht, Todesangst und Heimat.
TEXT, FOTOS: JULIA PABST
MITARBEIT, GRAFIK: CHIARA SWATON
Der Geruch von Chlor hängt in der Luft. Zaki Danesch* packt die Stützstangen und klettert die Leiter ins Schwimmbecken hinunter. Türkis-blaue Wellen schlagen durch die schwarze Badehose hindurch gegen seine straffen Oberschenkel. Zaki gleitet ins Wasser: Schwimmbrille auf, tief luftholen und untertauchen. Dort, wo gerade noch sein schwarzer Haarschopf war, steigen Blubberblasen auf.
Zaki kann noch nicht lange schwimmen. Das hat er erst in Österreich gelernt. In Afghanistan war er in einem Hamsterrad zwischen Flucht und Arbeit gefangen - auch als Kind. Er hat sehr jung seine leiblichen Eltern verloren und wuchs bei einer Pflegefamilie auf. Als schiitische Minderheit wurden Zakis Pflegeeltern und ihre Kinder von den Taliban verfolgt. Für kleine Freuden wie Schwimmbadbesuche oder Fußballtraining gab es weder Geld noch Zeit.
2015 durchbrach Zaki diesen Teufelskreis, verließ seine Familie und machte sich als damals 17-Jähriger gemeinsam mit tausenden anderen Flüchtlingen auf den Weg nach Europa. Er war einer jener jungen Männer, die damals auf den Titelseiten des Boulevards als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit verhetzt wurden. Damit ist er das personifizierte Feindbild von Rechtspopulisten: afghanisch, männlich, muslimisch.
Mit einer Größe von 1,65 m, seinem zuvorkommenden Dauergrinsen und seinem Wiener Dialekt wirkt Zaki alles andere als bedrohlich. Seitdem er im September 2015 in Wien angekommen ist, hat er sich wie ein “Vorzeigeflüchtling” verhalten: Er hat Integrationskurse besucht, Deutsch gelernt, den Pflichtschulabschluss nachgeholt, freiwillig gearbeitet und viele Freunde gefunden. Zaki hat alles getan, um sich zu integrieren. Dabei hing die ganze Zeit über ein Gedanke wie ein Damoklesschwert über ihm: “Dein Asylverfahren läuft noch. Du könntest jeden Tag abgeschoben werden.”
Der Teppichknüpfer
Zwei Meter weiter vorne tritt Zakis Kopf wieder an die Oberfläche. Er schüttelt sein Haar wie ein nasser Hund, Tropfen fliegen wie Bombensplitter in alle Richtungen. Zaki dreht sich mit dem Rücken zum Beckenrand und hält sich mit zurückgedrehten Armen an der Edelstahlleiste fest. Noch tief durchatmen: Einmal, zweimal, dreimal – dann stößt er sich kräftig vom Rand ab und krault davon.
Seinen genauen Geburtstag kennt Zaki nicht. Er weiß nur, dass er vor knapp 23 Jahren irgendwo in Afghanistan geboren worden ist. Wer seine Eltern sind? Auch diese Frage kann er nicht beantworten. Sie sind verschwunden, bevor er Erinnerungen mit ihnen teilen konnte. Wie und warum? Diese Fragen konnte ihm nie jemand beantworten.
Zaki wächst gemeinsam mit vier Stiefschwestern und sechs Stiefbrüdern als Findelkind in einer Pflegefamilie auf. Ein Tag gleicht dem anderen: Um fünf Uhr morgens aufstehen, frühstücken und bis drei Uhr nachmittags Teppiche knüpfen; von drei bis fünf Uhr nachmittags in einer Schule lesen, schreiben und rechnen lernen; weiterarbeiten; nach dem Abendessen noch etwas fernsehen; schlafen. Am nächsten Morgen beginnt alles von vorne. Zaki und seine Stiefgeschwister dürfen nie Kind sein. Das kann sich die Familie nicht leisten. Heute sagt Zaki dazu: “Wenn ich hier manchmal Kinder sehe, die im Park spielen, bewundere ich sie. Ich hätte so gerne auch so eine Kindheit erlebt.”
Zaki trainiert zwei- bis dreimal die Woche.
Der Verfolgte
Zakis rechter Arm streift knapp an seinem Kopf vorbei und taucht eine Armlänge weiter vorne wieder ins Wasser ein. Der linke Arm tut es ihm gleich. Im beständigen Rhythmus wechseln sie einander ab. Alle drei Züge dreht sich Zakis Kopf unter dem gerade zu einem Bogen geformten Arm zur Seite. Bevor der Arm sich wieder durchstreckt und vor ihm ins Wasser eintaucht, holt Zaki tief Luft.
Seine Pflegefamilie und auch er selbst gehören der ethnischen Minderheit der Hazara an. Sie sind Schiiten. In Afghanistan werden Zakis Angehörige von den islamistischen Taliban verfolgt. Zakis Ziehvater stammt eigentlich aus einem Dorf am Land. Er und zwei seiner älteren Söhne fuhren früher öfters dorthin und verteidigten mit Sturmgewehren ihr Dorf gegen die bewaffneten Nomaden.
“Ich habe so gelebt wie ein Tier. Ich habe gegessen, gearbeitet, geschlafen. Das war’s.”
Nach einem dieser Kämpfe ändert sich für die Familie alles. “Auf einmal war Vater zurück in Kabul. Er hat so viel Angst gehabt. Er hat gesagt, wir müssen schnell weg”, erzählt Zaki. Sein Ziehvater packt das nötigste Hab und Gut zusammen und drängt seine Frau und seine Kinder in einen Bus. Nächster Halt: Mashhad im Iran. Hier taucht die Familie in einem Miethaus unter. Da sie keine Papiere haben, verlassen sie kaum das Gebäude. Sie essen, arbeiten und schlafen in denselben vier Wänden. Schule gibt es für die Kinder keine mehr. “Wir haben dort illegal gelebt. Die Miete war sehr teuer. Wir mussten die ganze Zeit arbeiten, um sie bezahlen zu können”, erinnert sich Zaki, “ich habe so gelebt wie ein Tier. Ich habe gegessen, gearbeitet, geschlafen. Das war’s.”
Der Nichtschwimmer
Auf der seichten Beckenseite macht Zaki eine Pause. Sein Körper ragt brustaufwärts aus dem Wasser. Als neben ihm seine Schwimmkollegin auftaucht, lächelt Zaki sie an. “Servus! Schön, dass du da bist”, sagt er. Sie grüßt ihn prustend und fragt, was es bei ihm Neues gäbe.
Zaki fasst einen Entschluss: Er will nach Europa. Sein Pflegevater hilft ihm und gibt ihm die nötigen 7.000 Euro für die Schlepper. Zaki verabschiedet sich von seinen Stiefgeschwistern und seiner Pflegemutter. Er lässt sein altes Leben hinter sich. Zuerst überquert er zu Fuß die iranisch-türkische Grenze. Zwei Tage dauert der Marsch. Per Minibus geht es weiter, vorbei an Istanbul zu einem Dorf an der Ägäis. Im Bus lernt er zwei weitere junge Afghanen kennen. Auch sie wollen nach Europa. Wohin genau? Das ist ihnen egal. Hauptsache weg aus Afghanistan.
Noch vor Sonnenaufgang bringt ein Schlepper Zaki, seine beiden neuen Freunde und rund fünfzig weitere Flüchtlinge zum Strand. Er verteilt Schwimmwesten und weist die Frauen, Männer und Kinder an, auf ein Schlauchboot zu klettern. Auf den zwölf Quadratmetern sitzen die vielen Menschen fast aufeinander. In der Mitte sind die Frauen, Kinder und Alten. Am Rand sitzen Zaki und die anderen Männer. Ein Bein im Meer, ein Bein am Boot. „ Alle haben Angst, die ganze Zeit war Angst dabei. Aber wir haben uns irgendwie daran gewöhnt”, erzählt Zaki, “ich konnte mich über Wasser halten, aber nicht richtig schwimmen. Ich dachte mir: Entweder komme ich an oder ich sterbe. Das war alles. Mein Kopf war leer.”
Auf seiner Flucht kann sich Zaki über Wasser halten. Richtig schwimmen kann er nicht.
Der Neuankömmling
Schneller und schneller kreisen Zakis Arme durch das Wasser. Der harte Schlag seiner Beine hinterlässt weiße Schaumkronen. Neben ihm zieht seine Schwimmpartnerin allmählich an ihm vorbei. Zaki sieht ihren braunen Haarschopf im Augenwinkel und legt noch einen Zahn zu.
Im Morgengrauen tuckert das übervolle Schlauchboot Richtung Europa. Auf der halben Strecke kommt den Flüchtenden ein Boot der türkischen Küstenwache entgegen. Kommando zurück. All jene, die noch nicht in der Türkei registriert sind, werden festgenommen. Zaki und seine beiden Freunde müssen ins Gefängnis. Dort schlafen sie mit dutzenden anderen Flüchtlingen auf engstem Raum. Nach zehn Tagen bekommen die drei jungen Männer von der türkischen Behörde eine Aufenthaltsgenehmigung für maximal 15 Tage und werden freigelassen.
Auch der zweite Anlauf, das Mittelmeer zu überqueren, geht schief. Wieder hält die türkische Küstenwache das Schlauchboot auf. Festgenommen werden Zaki und seine beiden Kumpels diesmal nicht. Sie kommen mit ihren gültigen Papieren ungeschoren davon. Beim dritten Versuch erreichen sie schließlich die Insel Lesbos und damit Europa.
Der Frierende
Zaki kommt kurz vor seiner Schwimmpartnerin am Beckenrand an. “Verdammt, fast hätte ich dich gehabt!”, ruft sie ihm zu und klopft ihm auf die Schulter. Zaki schüttelt lachend den Kopf: “Vielleicht beim nächsten Mal.”
Zaki und die anderen bleiben nicht lange im Camp auf der Insel. Sobald ihre Papiere ausgestellt sind, nehmen sie die Fähre nach Athen. Nach einer Duschpause in der Wohnung eines Schleppers, fahren sie mit dessen Auto weiter stadtauswärts. Sie steigen in einen Bus und fahren bis zur griechisch-nordmazedonischen Grenze.
Es folgt ein fünfstündiger Fußmarsch quer durch die dornige Macchia. In Nord-Mazedonien angekommen, bringt der Schlepper die Gruppe zu einem Bahnhof. Dort warten bereits hunderte weitere Menschen. “Als der Zug angekommen ist, ist jeder einfach aufgesprungen. Es war so viel los”, erzählt Zaki, “kennst du diese Züge in Indien? Die, bei denen die Leute seitlich raushängen und oben draufsitzen? Es war genau so.”
Die Sonne knallt auf das Blechdach des Zugs. Im Waggon wird es so heiß, dass sich die Passagiere ihre Kleidung vom Leib reißen. Körper klebt an Körper, zwischen ihnen nur zwei Schichten Schweiß. Acht Stunden lang - bis Sonnenuntergang - tuckert der überfüllte Zug durch die bergige Landschaft bis zur serbischen Grenze.
Dort angekommen bleibt keine Zeit für eine Pause; die Schlepper verteilen Schlafsäcke und treiben die Karawane im Dunkeln weiter durch den Wald über die Grenze nach Serbien. Erst in der serbischen Einöde ordnen die Schlepper eine Pause an. Die Gruppe schläft ohne Zelte im Freien. “Wir haben alle gefroren. Aber trotzdem - wir mussten schlafen, wir waren nach diesen zwei Tagen so müde”, erinnert sich Zaki, “als wir aufgestanden sind, waren unsere Hände und Beine taub. Wir konnten vor Kälte nicht richtig stehen.”
Zaki zieht eine Länge nach der anderen. Mit seiner Schwimmpartnerin macht ihm das Training besonders Spaß.
Der Verlorene
Zaki und seine Schwimmpartnerin sitzen am Beckenrand und trinken Wasser aus bunten Hartplastikflaschen. “Ich hab auf Youtube letztens ur das coole Schwimmvideo angeschaut: Du musst deine Beine beim Treten locker lassen - dann geht das viel besser”, erklärt er. Seine Freundin seufzt: “Konntest du mir das nicht früher sagen? Jetzt weiß ich, warum ich immer so argen Muskelkater in den Beinen hab!” Sie hebt vorwurfsvoll die dunklen Augenbrauen. Er lacht nur.
Vom serbischen Wald geht Zakis Reise per Bus weiter in die serbische Hauptstadt Belgrad – genauer gesagt in einen Park neben einem Busbahnhof. Dort hätten die nächsten Schlepper ihn und seine beiden Kumpels eigentlich abholen sollen. Es kommt aber niemand.
“Ich habe Angst gehabt; Hunger; ich konnte nicht klar denken; ich konnte die Sprache nicht. Ich habe mich damals verloren.”
Eine Woche lang schlafen die drei jungen Männer auf Parkbänken. Wenn es regnet, suchen sie unter dem Dach eines nahegelegenen Parkplatzes Unterschlupf. “Ich habe dort große Angst bekommen”, erzählt Zaki, “ich dachte mir, dass die Schlepper uns allein gelassen haben. Ich hatte kein Geld mehr, mein Handy hatte kein Internet.” Sein Handy, ein altes Nokia, lädt Zaki bei einer Steckdose in der Busstation auf. Aber er wartet vergeblich auf einen erlösenden Anruf der Schlepper. “Ich habe dort zum ersten Mal geweint. Ich dachte mir: Ok, das ist jetzt das Ende von mir”, erinnert er sich , “Ich habe Angst gehabt; Hunger; ich konnte nicht klar denken; ich konnte die Sprache nicht. Ich habe mich damals verloren.”
Der Beschimpfte
Zaki nähert sich dem Beckenrand. Bevor er sich den Kopf an der Schwimmbeckenwand anstößt, hält er im Zug inne, taucht unter und gleitet einen Meter bewegungslos dahin; dann dreht er sich flink wie ein Otter um sich selbst, nutzt den Schwung und stößt sich nach einem Unterwasserpurzelbaum vom Rand ab.
Als er weinend am Straßenrand sitzt, spricht ihn jemand an. Vor Angst, bei der Polizei gemeldet zu werden, springt Zaki auf und läuft davon. Zwei Stunden später kommt endlich ein Schlepper im Park vorbei. Er beschimpft die jungen Männer und fragt sie, wo sie gewesen seien. Er hätte sie gesucht. “Aber sie haben uns nicht gesucht. Sie wussten, dass wir dort sind. Das war nur eine Ausrede. Vielleicht haben sie keinen Platz gehabt oder sie wollten einfach Kosten sparen”, kontert Zaki im Nachhinein. In der Situation selbst kann er sich nicht verteidigen. Sein Englisch ist nicht gut genug.
Der Schlepper bringt die Burschen in eine Wohnung. Dort können sie duschen, waschen ihre Kleidung und bekommen Essen. Zwei Tage später folgt die letzte Etappe ihrer Odyssee: Die Fahrt von Belgrad ins Burgenland.
Zaki kämpft sich durchs Wasser.
Der Festgenommene
Am Beckenrand nimmt Zaki seine Schwimmbrille ab und wäscht die angeschlagenen Gläser im Wasser sauber. Er keucht. Die vergangenen Längen hängen ihm im Atem. Aber das hält Zaki nicht davon ab, weiterzumachen. Er dreht den Kopf einmal nach links und dann nach rechts; lässt die Arme kreisen. Dann zwinkert er seiner Trainingspartnerin zu und setzt sich die Schwimmbrille wieder auf. Weiter geht’s.
Knapp drei Wochen vor der Flüchtlingstragödie in Parndorf, bei der 71 Menschen in einem LKW ersticken würden, steigt Zaki in einen ähnlichen Transporter. Ein Truck soll den mit grünen Planen bedeckten Anhänger von Belgrad bis nach Deutschland ziehen. Die Behörden bekommen aber Wind von dem Transport. Der Fahrer fährt von der Autobahn ab und wirft seine Passagiere in einem burgenländischen Maisfeld aus dem Anhänger.
"Als sie uns festgenommen haben, habe ich sie gefragt, ob Österreich auch zu Europa gehört."
Die Polizei lässt nicht lange auf sich warten. Bald ist die Flüchtlingsgruppe umzingelt. “Ich wollte einfach ankommen. Ich war müde. Ich wollte irgendwo sitzen und schlafen. Mir war wurscht, in welchem Land”, erzählt Zaki, “als sie uns festgenommen haben, habe ich sie gefragt, ob Österreich auch zu Europa gehört.”
Der Wahlwiener
Zaki zieht an einem mit Badekappe gekrönten Sportler vorbei. Nun blockiert eine gemütlich vor sich hin kraulende ältere Dame seine Bahn. Davon lässt sich Zaki aber nicht aus der Ruhe bringen. Es wimmelt hier abends immer nur so von Leuten. Er wechselt die Bahn und krault weiter.
Eigentlich dürfen aufgegriffene Flüchtlinge nur maximal 48 Stunden im Gefängnis festgehalten werden. In Zakis Fall kommt es anders. Es findet sich auf die Schnelle kein Dolmetscher. Zaki und seine beiden Freunde müssen 72 Stunden in Haft bleiben. Das ist ihnen relativ egal. Zaki schläft die ganzen drei Tage durch.
Nach ihrer Freilassung bringt die Polizei die drei jungen Männer nach Traiskirchen. Dort erwartet sie ähnlich wie auf Lesbos eine überfüllte Zeltstadt. An den Toren demonstrieren Menschen gegen die schlechten Bedingungen im Lager. Nach zwei Tagen reisen Zakis Freunde ab, sie ziehen nach Deutschland weiter. Zaki hat kein Geld mehr. Er muss in Traiskirchen bleiben.
Zaki verbringt drei weitere Nächte auf feuchten Thermomatten, dann kommen mitten in der Nacht mehrere Busse, die die Zeltflüchtlinge nach Wien Erdberg in ein leerstehendes Studentenheim bringen. Dort teilt sich Zaki mit einem zweiten jungen Mann ein Zimmer. Einige Leute kommen vorbei und zeigen den Neuankömmlingen die Stadt. “Mein Lieblingsplatz damals war die Alte Donau”, erzählt Zaki, “Dort bin ich oft schwimmen gegangen. Naja, ich konnte nicht schwimmen, ich hatte Angst vorm Schwimmen. Aber am Strand konnte ich stehen.”
Zaki holt tief Luft, bevor er sich wieder umdreht und weiterkrault.
Der Vorzeigeflüchtling
Zaki und seine Schwimmpartnerin halten sich schnaufend am Beckenrand fest. “Komm, zwei Längen machen wir noch”, sagt Zaki. “Ok, aber dann muss ich wirklich los”, antwortet seine Freundin. Zaki zieht die Schwimmbrille von seinem klebrig nassen Haar herunter und schiebt sie auf seiner Nase zurecht. Er holt tief luft und rudert noch einmal los.
In den folgenden Monaten lernt Zaki Deutsch, besucht einen Integrationskurs und lernt zusammen mit anderen Kursteilnehmer*innen schwimmen. Er holt den Schulabschluss nach und findet eine Lehrstelle. “Als ich hier angekommen bin, habe ich so eine Motivation gehabt, in meinen Adern floss die Kraft”, sagt Zaki”, “ich dachte mir, wenn ich mein Asyl bekomme, dann baue ich mir hier ein Leben auf. Ich war so glücklich.”
Schärfere Integrationsgesetze während der türkis-blauen Regierung machen Zaki einen Strich durch die Rechnung: Seine Lehre wird abgesagt, in mehreren Boulevardmedien und Gratiszeitungen wird gegen Flüchtlinge gehetzt; 2018 bekommt Zaki einen negativen Asylbescheid. Er legt Berufung ein. “Wenn ein, zwei Afghanen irgendwo Blödsinn machen, kommt alles in die Medien und die, die das lesen, werfen uns dann alle in einen Topf”, klagt Zaki, “die Leute verurteilen uns, ohne mit uns zu reden. Aber wir sind nicht alle so. Ich bin nicht so.”
“Auf einmal ging mein Weg nur noch bergab. Ich rollte runter und runter, immer weiter runter ins Tal. Das geht schon seit drei Jahren so.”
Die Jahre vergehen und Zaki bekommt noch immer keinen positiven Asylbescheid. Dabei will er so gerne arbeiten. Die Unsicherheit zerfrisst ihn: “Auf einmal ging mein Weg nur noch bergab. Ich rollte runter und runter, immer weiter runter ins Tal. Das geht schon seit drei Jahren so.”
Zaki wird depressiv. Er sieht morgens keinen Grund mehr aufzustehen. Er fühlt sich nutzlos, ungebraucht: “Die ganze Nacht lang konnte ich nicht schlafen. Da bin ich dann immer spazieren gegangen.” Eine ältere Dame kümmert sich um Zaki, wenn es ihm schlecht geht. “Manchmal habe ich eine Freundin besucht. Sie war alt, aber sie war so nett zu mir. Wir haben zusammen gegessen und geredet. Und sie hat gesagt, wenn ich Probleme habe oder nicht schlafen kann, soll ich sie anrufen”, erzählt Zaki, “ich habe sie dreimal in der Nacht angerufen. Ich wollte sie aber nicht öfter stören. Sie war müde und sie musste so viel arbeiten.”
Im Wasser fühlt sich Zaki sich selbst am nächsten. Sein Traum: im Meer schwimmen.
Der Neustarter
Zaki gibt noch einmal alles. Seine Beine pochen, aber er hört nicht auf zu treten. Seine Arme schleppen ihn voran. Mit jedem Zug kommt er seinem Ziel näher. Nur noch eine Länge, dann hat er es geschafft.
Zaki rafft sich immer wieder auf und macht weiter. Er sportelt und trifft sich mit Freunden, sooft er kann. Über seine Vergangenheit und seine Flucht redet er aber kaum. “Ich will kein Mitleid. Wenn ich darüber rede, bekomme ich ein schlechtes Gefühl”, sagt Zaki, “Mitleid hat man mit armen Leuten. Ich will nicht arm sein.”
Erst seit knapp einem Monat weiß Zaki, dass er in Wien bleiben darf. Nachdem er fünf Jahre lang ununterbrochen in Österreich gelebt hat und Deutsch auf B1 Niveau gelernt hat, hat er ein Anrecht auf eine “Aufenthaltsberechtigung plus”. Damit darf er in Österreich leben und arbeiten. Auch wenn er Österreich verlässt, darf er wieder einreisen.
“Die Quarantäne, das war für mich Normalität. Meine ganzen fünf Jahre hier war ich eingesperrt”
Für Zaki ist das so, als ob ein fünfjähriger Lockdown enden würde. “Die Quarantäne, das war für mich Normalität. Meine ganzen fünf Jahre hier war ich eingesperrt”, erzählt er, “viele Österreicher und Österreicherinnen haben ein gutes Leben: Sie können immer überall hingehen – sie können in einer Bar etwas trinken, in einer Disco tanzen, ins Ausland fahren. Für mich war das einfach nicht möglich. Ich durfte das Land nicht verlassen; ich hatte kein Geld, durfte aber auch nicht arbeiten gehen; man hat mich zur Faulheit erzogen.” Damit ist jetzt Schluss. Zaki möchte eine Lehre beginnen und sein eigenes Geld verdienen. Er will endlich auf eigenen Beinen stehen und sich ein Leben aufbauen. Österreich soll seine Heimat werden.
Zaki schwimmt Richtung Leiter, zieht sich hoch und hilft seiner Freundin aus dem Wasser. “Gutes Training”, sagt er und grinst. “Mit dir gibt es nur gute Trainings”, antwortet seine Schwimmpartnerin. Sie holen sich ihre Handtücher und rubbeln sich trocken. “Nächste Woche wieder?”, fragt sie ihn auf dem Weg zur Umkleidekabine. “Nächste Woche wieder.”
*Name von der Redaktion geändert
Daten & Fakten
2015 wurden in Österreich 88.340 Asylanträge gestellt und somit ein bisheriger Höchstwert erreicht. Rund 72% der Antragsteller*innen waren männlich. Die meisten Asylanträge wurden von afghanischen und syrischen Staatsangehörigen registriert.
Am Ende des Jahres gab es 43.020 rechtskräftige Entscheidungen.
Entscheidungsarten
Mit einer Asylgewährung ist man rechtlich als Flüchtling anerkannt und hat vollen Zugang zum Arbeitsmarkt.
Eine subsidiäre Schutzgewährung ist für Personen, die Schutz vor einer Abschiebung benötigen. Ihr Asylantrag wurde zwar abgelehnt, aber ihr Leben oder ihre Gesundheit sind im Herkunftsland bedroht. Sie haben ein Einreise- und Aufenthaltsrecht in Österreich und vollen Zugang zum Arbeitsmarkt.
Der humanitäre Aufenthaltstitel ist ein Sonderstatus für besonders schutzbedürftige oder gut integrierte Personen, die damit für einen befristeten Zeitraum legal in Österreich leben dürfen, obwohl sie eigentlich keinen legalen Aufenthaltstitel haben.
Die Aufenthaltsberechtigung plus, wie Zaki sie erhalten hat, kann an Personen erteilt werden, sofern sie in den letzten fünf Jahren ununterbrochen in Österreich niedergelassen waren und Deutsch auf B1 Niveau sprechen. Mit diesem Aufenthaltstitel dürfen Schutzsuchende selbstständig und unselbstständig arbeiten und dauerhaft in Österreich leben.
Comments