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Angst vor dem Essen

  • AM RAND
  • 24. Jan. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Aug. 2021

Luisa konnte immer alles essen. Von einem Tag auf den anderen bekommt sie aber schreckliche Bauchschmerzen. Sie nimmt innerhalb von sechs Monaten 20 Kilo ab. Die Diagnose: Histaminintoleranz.


TEXT & VIDEO: RONNY TAFERNER


Im Restaurant essen? Für die meisten Menschen bedeutet das Genuss, für Luisa Stress. Wenn sie mit Freund*innen zum Essen verabredet ist, checkt die 23-Jährige schon Tage davor online die Speisekarte nach Dingen ab, die sie essen kann. Nicht zu wissen, welche Zutaten im Gericht sind, beunruhigt sie. Ständig Sonderwünsche abzugeben, ist ihr unangenehm. Oft bestellt sie nur ein alkoholfreies Getränk, während die anderen Pizza, Burger, Schnitzel und Co. essen.



Alltag mit Einschränkungen


Juni 2019: Luisa ist am Heimweg von der Fachhochschule. Sie hat Bauchschmerzen. Auch nach drei Tagen ist keine Besserung in Sicht. Sie geht zum Arzt, der ihr Tabletten gegen Magen-Darm-Grippe verschreibt. Doch die Schmerzen lassen auch zwei Wochen später nicht nach. „Ich wollte gar nicht mehr meine Wohnung verlassen. Mein Bauch tat sehr weh und ständig musste ich aufs Klo.“ Dann die Diagnose: Histaminintoleranz. Was das ist, weiß Luisa anfangs noch nicht. Aber sehr bald wird ihr beim Blick auf die Lebensmitteltabelle, die ihr der Arzt zeigt, klar: Unüberlegt essen, worauf sie gerade Lust hat, ist jetzt nicht mehr möglich.


Histamin ist ein Eiweißstoff und wird vom Körper selbst produziert. Auch viele Lebensmittel enthalten Histamin. Menschen mit Histaminintoleranz reagieren auf eine erhöhte Menge dieses Stoffes durch Unverträglichkeitsreaktionen. Die Symptome sind unterschiedlich und reichen von Juckreiz bis hin zu Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden, so wie bei Luisa. Im Gegensatz zu Laktose- oder Glutenintoleranz ist die Unverträglichkeit von Histamin noch kaum erforscht. Dazu kommt, dass Betroffene unterschiedlich auf verschiedene Lebensmittel reagieren.


"Oh nein, jetzt braucht mein Körper schon wieder etwas zu essen."

Plötzlich darf Luisa viele Lebensmittel nicht mehr zu sich nehmen: Tomaten, Soja, Erdbeeren, Alkohol, Hülsenfrüchte, die meisten Nüsse, Essig, Gewürze sowie sämtliche Lebensmittel, die einen Reifungs- oder Fermentierungsprozess durchgemacht haben, wie etwa Sauerkraut, Käse, Kaffee oder Schokolade. Auch Fertigprodukte kann sie aufgrund der Zusatzstoffe nicht mehr essen. Es beginnt ein neuer Alltag mit starken Einschränkungen: Planen, was wann auf den Tisch kommt. Zutatenlisten der Lebensmittel im Blick behalten. Täglich frisch kochen. Innerhalb kurzer Zeit verwandelt sich ihre Leidenschaft zu essen in Angst. „Jedes Mal, wenn ich das Hungergefühl gespürt hab, dachte ich mir: ‚Oh nein, jetzt braucht mein Körper schon wieder etwas zu essen.‘ Ich hatte schon wirklich Angst vor dem Essen.“


Eine Auswahl an Lebensmitteln, die Luisa essen kann



Darm, das zweite Gehirn


„Immer wenn ich nervös bin, rumort es bei mir im Bauch.“ Luisa ist sich sicher, dass die Ausbruchszeit der Unverträglichkeit im Juni kein Zufall ist. Im Herbst steht ihr verpflichtendes Auslandssemester in Belgien an. Obwohl sie sich drauf freut, stressen sie die organisatorischen Erledigungen und der Gedanke, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen und von Zuhause weg zu sein. Noch im Sommer nimmt sie vier Kilogramm ab. Die Gedanken in ihrem Kopf kreisen: „Wie soll ich das schaffen, wenn es mir so schlecht geht?“


"Ich hatte das Gefühl, ich kann nicht rausgehen. Ich konnte meine geschützten vier Wände nicht verlassen.“

Während des Auslandssemesters in Belgien verschlimmert sich ihr Zustand. Sie merkt, wie weitreichend die Auswirkungen ihrer Histaminintoleranz sind. Zu den Schmerzen kommen der psychische Stress und Heimweh dazu. Alle ihre Freund*innen und Kolleg*innen feiern, machen Ausflüge und sind unterwegs. Für Luisa unmöglich: „Ich hatte das Gefühl, ich kann nicht rausgehen. Ich konnte meine geschützten vier Wände nicht verlassen.“ Kaum geht sie einen Schritt aus ihrem Zimmer, kommt die Angst: „Wo gibt’s das nächste WC in der Nähe? Was kann ich im Restaurant essen?“


Sie isoliert sich in ihrem Zimmer. Tägliche Telefonate mit ihrer Familie geben ihr Halt. „Ich habe mir oft den Fernseher oder das Radio aufgedreht, nur um nicht das Gefühl zu haben, dass ich alleine bin.“ Von Tag zu Tag isst Luisa weniger, sie wird körperlich schwächer und baut Muskeln ab. Sie verliert über 20 Kilo und bringt mit ihrer Körpergröße von 1,80 Metern nur noch 51 Kilogramm auf die Waage. Das Ende des Auslandssemesters ist für sie eine Erleichterung.


Luisa kann heute das Essen wieder mehr genießen - das war nicht immer so


Lernen, damit umzugehen


Nach ihrer Ankunft in Österreich hat sich ihre gesundheitliche Lage schnell wieder verbessert. Luisa ist wieder in ihrem gewohnten Umfeld. Der Lockdown tut ihr gut – sie kann von zuhause aus studieren und muss die Wohnung nicht verlassen. Tägliche Routinen geben ihr Halt. Ausflüge und Treffen mit Freund*innen plant sie im Vorhinein bis ins Detail, damit keine Ungewissheiten entstehen können. Den Wunsch ihres Freundes, gemeinsam in den Urlaub zu fahren, kann sie derzeit noch nicht erfüllen. „Wenn ich irgendwo hinfahren muss, bedeutet das Stress für mich. Vor allem im Ausland, wenn ich die Küche nicht kenne. Es muss immer möglich sein, selbst zu kochen – nur dann kann ich in den Urlaub fahren.“


„,Die schon wieder mit ihrer Intoleranz‘, so dachte ich über Menschen mit Lebensmittelintoleranzen früher."

Wie viele Menschen an einer Lebensmittelunverträglichkeit leiden, ist unklar. Bis zu 30 Prozent der Menschen glauben, eine Lebensmittelintoleranz zu haben. Tatsächlich sollten es aber weniger sein. Eine starke Unverträglichkeit ist bei ein bis drei Prozent der Bevölkerung nachgewiesen. Am stärksten verbreitet ist Laktoseintoleranz, gefolgt von Histaminintoleranz. Am dritthäufigsten sind Sorbet- und Glutenintoleranz. Etwas seltener kommen Fruktose-, Galaktose und Saccharoseunverträglichkeit vor.


Luisa muss sich mit ihren Nahrungsmitteln und deren Inhaltsstoffen beschäftigen


„,Die schon wieder mit ihrer Intoleranz‘, so dachte ich über Menschen mit Lebensmittelintoleranzen früher. Aber wenn man selbst darunter leidet, merkt man, wie schlecht es einem damit gehen kann.“ Luisa tritt heute selbstbewusst mit der Unverträglichkeit auf. Mittlerweile traut sie sich, im Restaurant nachzufragen, was sich in den Speisen befindet und Wünsche zu äußern. Dabei haben ihr unter anderem persönliche Blogs von Menschen mit Histaminintoleranz auf Instagram geholfen. Dort findet Luisa Kochrezepte und kann sich mit anderen austauschen.


Auch wenn Luisa wieder mehr Lebensmittel verträgt als vor einem Jahr: Ihr Leben ist eingeschränkt, ständig muss sie sichergehen, ob WCs in der Nähe sind; sie muss ihren Tagesplan genau planen und jeden Bissen Essen kontrollieren. Ob sie jemals wieder normal essen können wird, ist ungewiss. „Ich habe gelernt, damit umzugehen.“

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