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Diversität in der Synagoge – liberal-jüdisches Leben

Mitten in der Leopoldstadt, dem zweiten Wiener Gemeindebezirk, könnte man an dem unscheinbar wirkenden Stadthaus in der Robertgasse womöglich einfach vorbei gehen. Von außen lässt sich nur schwer vermuten, was im Inneren des Gebäudes ist: Hinter einer massiven Panzertür verbirgt sich die jüdische Gemeinde Or Chadasch.


TEXT: ELISABETH KIRSCH

VIDEO: DENISE MEIER UND SIRI MALMBORG


Seit sechs Jahren ist Bettina Mitglied in der liberalen jüdischen Gemeinde Or Chadasch in Wien. Sie hat ganz eigene Erfahrungen mit dem vielfältigen jüdischen Leben in ihrer Stadt gemacht und lädt offen zum Gottesdienst in der Synagoge ein, um einen Einblick in ihren Glauben und Alltag zu geben.


Beim Eintreten in das Gemeindezentrum wird eines schnell klar – unscheinbar ist dieser Ort ganz und gar nicht. Von einem kleinen Vorraum mit Gebetsbüchern gelangt man in den Gebetsraum, dem Herzstück der Gemeinde. Gewölbte Decken und ein langer Gang mit Sitzreihen lassen an einen Tempel erinnern. Am Ende des Raumes steht ein massiver Schrein mit einer Inschrift in hebräischen Buchstaben. In einer der vorderen Reihen steht Bettina und bereitet sich auf den Gottesdienst vor.


Über ihren Schultern liegt ihr Gebetsschal. Sie schaut nach vorne und kehrt noch einmal in sich, bevor der Gottesdienst losgeht. Es ist Freitagabend und damit der Beginn des Schabbats. Zusammen mit dem Rabbi Lior Bar-Ami und den anderen Gemeindemitgliedern feiert Bettina heute Kabbalat Schabbat, die Begrüßung des höchsten Feiertags im Judentum.



Bettinas Weg in die Gemeinde


Bettina ist 25 Jahre alt und studiert Wirtschaftsrecht im Master an der Wirtschaftsuniversität Wien. Die gebürtige Kärntnerin lebt seit sechs Jahren in Wien. Ungefähr genauso lange ist sie ein festes Mitglied in der Gemeinde Or Chadasch und nimmt dort am jüdischen Leben teil. Das war nicht immer so, denn ihre Familie in Kärnten hat den jüdischen Glauben nie ausgelebt.


Bettina fand für sich selbst zum Glauben, als sie das erste Mal einen Schabbat-Gottesdienst besuchte und dort zur Ruhe kam: „Ich habe mich dort geborgen gefühlt und ich habe gedacht, ich möchte dieses Gefühl wieder haben“. In ihrer Heimat gibt es nur wenige praktizierende Jüd*innen und die nächste Synagoge befindet sich in einer anderen Stadt. Das ist auch ein Grund, weshalb Bettina nach Wien gezogen ist. Die Hauptstadt hat die größte jüdische Gemeinschaft in Österreich und bietet ihr damit nicht nur die Möglichkeit, ihren Glauben auszuleben, sondern auch am jüdischen Leben teilzunehmen.


Bettina fühlt sich in der Gemeinde Or Chadasch angekommen. (c) amrand.at


Schnell fand sie Anschluss in der progressiven jüdischen Gemeinde Or Chadasch. Dort feiert sie gemeinsam mit anderen Mitgliedern wöchentliche Gottesdienste und Feiertage. Zudem lernt sie im Gemeindezentrum hebräisch und setzt sich mit ihrem Glauben auseinander, wie sie es als Kind nie getan hat.


Für Bettina ist die Gemeinde viel mehr als ein Ort, an dem sie ihre Religion ausleben kann. Auch der soziale Faktor spielt für sie eine wichtige Rolle. Sie ist sehr eng mit ihrer Gemeinde verbunden und verbringt mit den anderen Mitgliedern gerne auch über die Gottesdienste hinaus Zeit. Als sie nach Wien kam, wurde sie sehr herzlich von der Gemeinde empfangen und ihr war sofort klar: Sie ist gekommen, um zu bleiben.


In Or Chadasch wird Vielfalt großgeschrieben


Ihrer Gemeinde ist Bettina nicht ohne Grund beigetreten. Als sie sich dazu entschied, religiös zu leben, war ihr wichtig, dies in einer liberalen und progressiven Variante zu tun. So eine Gemeinschaft hat sie in Or Chadasch gefunden: Sie ist die erste und einzige progressive jüdische Gemeinde in Österreich. Für Bettina ist es wichtig zu betonen, dass Diversität hier wirklich gelebt wird. Das bedeutet zum einen, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. So nehmen auch Frauen das Amt als Rabbiner*innen ein, sitzen im Vorstand und nehmen gleichwertig am Gottesdienst teil. Zum anderen gibt es in der Gemeinde auch Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich verstehen und Menschen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen.


Die Gemeinde Or Chadasch versucht alle seine Mitglieder gleich zu behandeln. (c) amrand.at


Der Gemeinde ist es sehr wichtig, niemanden auszuschließen und offen gegenüber allen Menschen zu sein. Bettina bringt den Grundsatz von Or Chadasch auf den Punkt: „Es zählt zu unserem Verständnis von Gleichberechtigung, dass nicht nach solchen Kriterien differenziert wird, sondern, dass wir jeden Menschen mit seinen Talenten und Fähigkeiten willkommen heißen".


Die Begrüßung des Ruhetages


Glocken läuten nicht, wenn Rabbi Lior Bar-Ami zum Gottesdienst einlädt. Stattdessen hört man von allen Seiten ein freudig ausgerufenes „Schabbat Schalom!“ von den eintretenden Gemeindemitgliedern. Der Rabbiner von Or Chadasch trägt einen schlichten Anzug und aus seinen Schuhen blitzen knallgelbe Socken, auf denen Pelikane abgebildet sind. Sein Gebetsschal strahlt in allen Farben des Regenbogens.


Jede Woche am Freitagabend bei Sonnenuntergang versammelt sich Bettina mit den anderen Mitgliedern in der Synagoge ihrer Gemeinde, um Kabbalat Schabbat zu feiern. Das ist die Begrüßung des Schabbats, der ein Tag ist, an dem man zur Ruhe kommt. Der Schabbat ist der wichtigste Feiertag im Judentum.


Auch in der Gemeinde Or Chadasch hat er einen sehr hohen Stellenwert. Der Gottesdienst wird in liberalen Gemeinden wie Or Chadasch ganz besonders abgehalten und es gibt auch hier Unterschiede zu den traditionellen Gottesdiensten. Dazu zählt, dass Männer und Frauen sich gemeinsam in der Synagoge einfinden, um zusammen am Schabbat teilzunehmen. Eine Trennung der Geschlechter in der Synagoge gibt es hier nicht, auch wenn das in manch anderen Gemeinden der Fall ist. Das gefällt Bettina besonders gut. Sie will bei den Predigten aktiv teilnehmen und nicht bloß passiv dabei zusehen.


Am Schabbat findet traditionell ein gemeinsamer Gottesdienst statt. (c) amrand.at


Abgehalten wird der Gottesdienst immer gleich: Traditionell werden zu Beginn des Schabbats zwei Kerzen angezündet. Dann singen alle zusammen, bevor der formelle Gottesdienst seinen Lauf nimmt. In der liberalen Gemeinde werden Gebete nicht nur gesprochen, sondern auch gesungen. Beim Gottesdienst singt die Gemeinschaft verschiedene Gebete, darunter das Schema Yisrael (dt.: Höre Israel), das zentrale Gebet im jüdischen Glauben. Da die religiösen Texte alle auf Hebräisch verfasst sind, wird im Gottesdienst oft diese Sprache gesprochen. Bei dem Samstagsgottesdienst lesen der Rabbi und die Mitglieder viel aus der Thora, dem jüdischen Äquivalent zu Bibel und Koran. Aber auch Englisch und Deutsch sind immer wieder zu Hören. Nach seinem Gebet verteilt Rabbi Bar-Ami Brot und Wein. Dann ist der Schabbat eröffnet, der bis zum Sonnenuntergang am Samstagabend anhält.



Bettinas Alltag und der jüdische Glaube


Auch außerhalb der Gottesdienste richtet Bettina wie viele Jüd*innen ihr Leben nach ihrem Glauben aus – soweit das eben geht. Dazu gehört unter anderem das tägliche Beten. Jeden Morgen und Abend betet sie das Schema Yisrael, das auch im Gottesdienst vorkommt. Außerdem feiert Bettina den Schabbat nicht nur in der Synagoge. Auch Zuhause gibt es bestimmte Traditionen und Rituale, die sie einhält. Der Schabbat geht vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag. Praktizierende Jüd*innen nutzen diese Zeit, um zur Ruhe zu kommen.


Am Schabbat gibt es traditionell ein gemeinsames Familienessen. (c) cottonbro von Pexels


Aber was genau bedeutet das – zur Ruhe kommen? Einfach gesagt heißt es, an diesem Tag ganz auf sich selbst achtzugeben und innezuhalten. Jüd*innen machen an diesem Tag nichts, was diese Ruhe stören könnte. Also: keine Arbeit und keine Reisen. Zudem wird nicht gekocht, technische Geräte bleiben ausgeschaltet, um nicht vom Schabbat abzulenken. Traditionell gibt es ein festliches Schabbatmahl mit der Familie, das vor dem Ruhetag vorbereitet wird. Bettina schätzt diese Rituale am Ende der Woche sehr - so bleibt auch ihr Smartphone am Schabbat immer ausgeschaltet und sie kommt zur Ruhe.



Nicht ganz koscher


Zum jüdischen Leben gehört auch das koschere Essen. Die Kaschrut bezeichnen im Judentum die Speisegesetze, die Lebensmittel entweder als „passend“ oder „unpassend“ kategorisieren. Das bedeutet, dass es bestimmte Essensverbote gibt. Unter anderem verzichten Jüd*innen auf Schweinefleisch und trennen milchige und fleischige Lebensmittel voneinander. Damit ist ein Schinken-Käse Toast für Menschen jüdischen Glaubens grundsätzlich Tabu. Auch Meeresfrüchte und Fische, die keine Schuppen haben, sind nicht erlaubt, wenn man nach den Kaschrut lebt.


Als Vegetarierin hat Bettina keine Schwierigkeiten mit der koscheren Küche. (c) Ksenia Chernaya von Pexels


Bettina hat keine Schwierigkeiten, diese Regeln einzuhalten. Als Vegetarierin verzichtet sie ohnehin auf Fleisch und muss somit nicht auf die Trennung von Milchprodukten und Fleischprodukten achten. Damit ist es aber noch nicht getan, denn es gibt auch noch viele andere Regeln, die man beim koscheren Essen beachten muss.


In Wien gibt es mehrere koschere Supermärkte. Viele von ihnen sind im zweiten Bezirk - dort gibt es alles, was man zum koscheren Leben braucht. Auch in koscheren Lokalen gibt es die Möglichkeit, koscheres Essen zu genießen. Das ist für Bettina allerdings nicht zwingend notwendig, denn auch in vielen nicht-jüdischen Restaurants gibt es eine Menge an vegetarischen und veganen Gerichten, die sie bedenkenlos bestellen kann.

Panzertüren und Kontrolle


Eine Sache fällt besonders auf, wenn man das Gemeindezentrum betritt: Sicherheit wird hier großgeschrieben. Die Gemeinde ist von einer dicken Panzertür geschützt. Am Eingang der Gemeinde steht immer ein*e Soldat*in oder Sicherheitspersonal. Es werden Ausweise kontrolliert und die Gäste werden registriert, ganz egal ob jüdisch oder nicht. Das sei für einige Außenstehende schockierend, wie Bettina selber sagt, aber für die Sicherheit der Gemeinde sei es unverzichtbar. Denn Hass gegen Jüd*innen und gegen Israel sind in unserer heutigen Zeit immer noch aktuell.


Antisemitismus ist leider auch heute noch ein großes Problem in Österreich. (c) RODNAE Productions von Pexels


„Ich bin in der sehr glücklichen Position, Antisemitismus nur aus den Medien zu kennen“, sagt Bettina. Sie hat selbst noch nie Diskriminierung und körperliche oder verbale Gewalt aufgrund ihrer Religion erlebt. Jedoch hat sie schon von Freund*innen und Bekannten mitbekommen, dass sie von Antisemit:innen attackiert wurden. Trotz dieser unschönen Erfahrungen fühlt sich Bettina aber wohl in der Stadt und lässt sich von dem Hass nicht unterkriegen.


Ein liberales jüdisches Leben


Als liberale Jüdin ist Bettina fest in ihrer Gemeinde verwurzelt. Wenn sie über das Gemeindeleben und die Grundsätze von Or Chadasch redet, wird eines schnell klar: Eine Gemeinde kann fernab von Ausgrenzung und festgefahrenen Wertvorstellungen Traditionen und Religion vermitteln. Akzeptanz, Diversität und Gemeinschaft, sind Dinge, die in Or Chadasch groß geschrieben werden. Für Bettina sind diese Grundsätze ein wichtiger Teil ihres Glaubens. Als sie ein letztes Mal sagt, warum ihr diese Gemeinde soviel bedeutet, erstrahlt ihr ganzes Gesicht vor Stolz: „Das ist warum ich Mitglied bei Or Chadasch bin – die gelebte Vielfalt!“.





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