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Unendliches Kopfkino

Bruno und Petra sind seit 20 Jahren verheiratet und haben sich noch nie gesehen. Eine Geschichte über den Alltag, die Barrieren und die Sorgen eines blinden Ehepaares.


TEXT: HANNAH LEHNER

VIDEO, FOTOS: RONNY TAFERNER AUDIOVERSION: PAUL MAIER


Für Blinde und Menschen mit Sehbehinderung gibt es diesen Text auch als Audio-Version:


Beim Betreten der Wohnung von Bruno und Petra fällt einem vorerst nichts Außergewöhnliches auf. Das Ehepaar zeigt uns ihre bunten Räume geschmückt mit Fotos der Familie und Bildern aus der Heimatstadt. Nur im Wohnzimmer fehlt der Fernseher. Obwohl es dem Heim von Petra und Bruno an Farben nicht fehlt, entstehen diese nur noch in den Köpfen des Ehepaares. Die beiden haben ihre Sehkraft in den Jugendjahren verloren und sind seitdem vollständig blind.


Petra und Bruno stehen im Alltag vor zahlreichen Herausforderungen


"Es macht einfach unser Leben bunter".

Der 69-jährige Bruno kann von Geburt an nur mit einem Auge sehen und erblindet mit 18 Jahren gänzlich. Mittlerweile hat er sich seine Augen entfernen lassen und trägt stattdessen zwei Glasaugen. Petras Fähigkeit zu sehen entwickelt sich ähnlich. Auch sie ist von Geburt an sehbehindert, kann jedoch noch bis zu ihrem 20. Lebensjahr mit Einschränkungen sehen. Dass sie beide in ihrer Kindheit und Jugend Farben wahrnehmen konnten, schätzen sie sehr. "Es macht einfach unser Leben bunter", meint Petra. Diese Erinnerungen sehen sie auch als großen Vorteil gegenüber Menschen, die von Geburt an blind sind. Die Ursache für Petras Blindheit ist eine Krankheit namens Toxoplasmose. Es handelt sich dabei um eine Vernarbung der Netzhaut, sowie missgebildete Sehäpfel, die schließlich zu einer eingeschränkten Sehkraft bis zur Blindheit führen können.


Porträtaufnahme von Bruno

Bruno ist seit dem Alter von 18 Jahren komplett blind


Blindheit kann einen Menschen von Geburt an begleiten oder auch erst im Laufe des Lebens entstehen. Weltweit sind mehr als 35 Millionen Menschen davon betroffen. Wenn die Netzhaut des Auges geschädigt wird, verliert ein Mensch stark an Sehkraft oder erblindet sogar gänzlich. Einer der häufigsten Ursachen für Blindheit ist daher die "Makuladegeneration", ein Überbegriff für unterschiedliche Netzhauterkrankungen. Diese können aus verschiedenen Gründen entstehen. Dazu zählen unter anderem Vorerkrankungen wie Diabetes, vererbte Krankheiten oder auch ein höheres Alter.


Blindheit kann jedoch auch durch arterielle Verschlüsse ausgelöst werden. Ähnlich wie bei einem Herzinfarkt kommt es durch Verkalkungen und Verstopfungen der Blutbahnen zu einer sehr schlechten Durchblutung des Auges. Es wird dadurch mit den Jahren geschwächt oder verliert sogar ganz plötzlich die Sehkraft. Ein hoher Blutdruck oder auch Rauchen stellen daher nicht nur ein Risiko für das Herz oder die Lunge dar, auch die Augen können stark geschädigt werden. Wissenschaftler*innen haben in den letzten Jahrzehnten beobachtet, dass die Menschheit einerseits stark an Sehkraft verloren hat, jedoch besonders in Industrieländern nun auch fortschrittlicher behandelt werden kann.


Blinde Bekanntschaften


Bruno lebt seit seiner Kindheit in Wien. Er besucht ab dem Alter von sechs Jahren hier die Blindenschule und betreut als Sozialarbeiter Menschen mit Sehbehinderung. Petra hingegen geht auf eine reguläre Schule mit sehenden Kindern. Besonders in der Hauptschule hat sie einige Schwierigkeiten durch ihre eingeschränkte Sehkraft. In einer Blindenschule in Nürnberg wird sie schließlich zur Telefonistin ausgebildet und lernt, ohne Hilfsmittel mit einer Schreibmaschine zu arbeiten.

"Beim Mittagessen haben wir uns kennengelernt, bei Cordon Bleu und Pommes".

Petra und Bruno sitzen vor dem Fernseher, der keinen Bildschirm hat.

Der "Fernseher" von Petra und Bruno ist ohne Bildschirm

Vor zwanzig Jahren begegnen sich Petra und Bruno im Urlaub in Bayern zum ersten Mal und verlieben sich ineinander. "Beim Mittagessen haben wir uns kennengelernt, bei Cordon Bleu und Pommes", erzählt Petra. Sie haben kurz danach geheiratet und leben seither in ihrer eigenen Wohnung. Obwohl sie sich nie gesehen haben, können sie sich ein Bild im Kopf voneinander ausmalen. Sie wissen, wie sich die andere Person anhört, anfühlt und riecht. Es nicht nötig, sich zu sehen, um sich zu lieben. Auch wenn sie neue Leute kennenlernen, achten sie auf ihre Stimme und die Ausdrucksweise. Obwohl ihr Gehörsinn und Geruchsinn stark ausgeprägt ist, bedeutet das nicht, dass sie besser hören und riechen können als Sehende. Sie nutzen diese Sinne lediglich öfters und intensiver, unter anderem um sich zu orientieren.


Porträt von Petra

Petra hat sich in Bruno verliebt und ist von Deutschland zu ihm nach Wien gezogen



Lebensgefahr im Alltag


Besonders das Identifizieren verschiedener Geräusche prägt den Alltag blinder Menschen. Wenn Bruno und Petra unterwegs sind, achten sie auf die Signale der Ampeln und die Lautstärke der Autos. Nicht selten kommt es vor, dass Anrainer*innen Ampeln leiser stellen lassen, um nicht gestört zu werden. Wenn Bruno und Petra jedoch die Signale nicht gut genug hören, kann das sehr gefährlich werden. "Da geht es nicht nur um Komfort, sondern da geht es tatsächlich um Sicherheit und um das Überleben“, kritisiert Bruno. Auch neue Technologien im Transport machen den beiden ein wenig Angst. Elektroautos, die nur sehr leise Geräusche erzeugen, können die Risiken in ihrem Alltag um einiges erhöhen.


"Da geht es nicht nur um Komfort, sondern da geht es tatsächlich um Sicherheit und um das Überleben.“

Nicht nur der Verkehr zwingt blinde Personen zukünftig zu mehr Unterstützung von Sehenden. Auch die Technik lässt Menschen mit Sehbehinderung oft im Stich. Mobiltelefone mit Touchscreen sind zwar bedienbar, jedoch erleichtern Tasten oder auch eine Sprachausgabe die Benutzung der mittlerweile lebensnotwendigen Geräte sehr. Der Laptop von Bruno und Petra benötigt keinen Bildschirm. Auf den Tasten der Tastatur ist Blindenschrift eingraviert. Sie können im Internet surfen, indem die Sprachausgabe Zeile für Zeile der Website vorliest. Das kann oft sehr mühsam und langwierig werden, wenn nicht sogar unmöglich, wenn Websites nicht barrierefrei gestaltet werden. Für die Barrierefreiheit sollte das Blindengleichstellungsgesetz, sowie das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sorgen. Auch der Blindenverband hat die Aufgabe, Menschen mit Sehbehinderung besser in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren und sich für ihre Rechte einzusetzen. Doch obwohl all das eine weitere Ausgrenzung und Trennung zwischen blinden und sehenden Menschen bekämpfen sollte, fühlen sich Petra und Bruno oft im Stich gelassen.

Petra hat ihre Hände auf einem Buch, das in Blindenschrift gedruckt ist

Petra liest in einem Buch über Schüßler Salze



In Vergessenheit geraten


Das Ehepaar kritisiert, dass sich die Politik ausschließlich auf Verbände und Organisationen verlassen würde. Besonders in den letzten Monaten wird dies durch die Corona-Pandemie umso deutlicher. Blinde Menschen müssen sich zwar genauso an die Maßnahmen halten wie Sehende. Dass dies ihnen ohne Hilfe oft nicht möglich ist, vergisst die Mehrheit. Webseiten für die Corona-Testungen sind nicht barrierefrei gestaltet. Beim Einkaufen im Supermarkt werden blinde Menschen nicht mehr wie gewohnt bedient, weil der Sicherheitsabstand eingehalten werden muss. Es wird ausschließlich auf den Webshop verwiesen. Die Bestellung im Internet wäre für sie jedoch eine mühsame Tortur, die ohne Unterstützung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Durch die Pandemie wird die Ausgrenzung von Randgruppen verstärkt und das lässt das Ehepaar mittlerweile verzweifeln. "Ich bin sehr verärgert darüber, dass man in diesen ernsten Zeiten auf uns völlig vergisst“, kritisiert Bruno.


Bruno und Petra sitzen auf ihrer Couch im Wohnzimmer.

Bruno und Petra sind seit 20 Jahren verheiratet - gesehen haben sie sich noch nie


"Ich bin zwar sehbehindert, aber nicht gehbehindert."

In den letzten Monaten ist die Nachbarin der beiden ihnen eine besonders starke Hilfe. Bruno und Petra nehmen gerne Unterstützung an. Trotzdem streben sie nach einem selbstständigen und unabhängigen Leben. In ihrer Freizeit möchten sie ins Theater gehen, Bücher lesen und ihre Freunde treffen – wie alle anderen Menschen. Es gibt viele Personen, die glauben, dass das Ehepaar nicht nur schlecht sehen, sondern auch schlecht hören, gehen oder gar verstehen würde. "Ich bin zwar sehbehindert, aber nicht gehbehindert" , sagt Bruno. Viele sprechen Petra und Bruno oft nicht mit ihren Namen an oder glauben, dass sie in einem Blindenheim wohnen.


Obwohl das Ehepaar immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert wird, zeigen sie, dass man auch blind ein normales, gemeinsames Leben führen kann. Es macht sie traurig, dass ihnen sehr oft Barrieren aufgebaut werden, die sie ohne Hilfestellung selbst nicht bewältigen können. Jedoch blicken sie der Zukunft zuversichtlich entgegen und freuen sich, dass es auch sehr viele Menschen gibt, die an sie denken. Schließlich wünschen sie sich von ihren Mitmenschen, dass sie genauso akzeptiert und behandelt werden wie andere Personen.

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