Millisekunden können ein ganzes Leben verändern: Anfangs reißen sie den Boden unter den Füßen weg, danach das Dach über dem Kopf. Es entsteht ein Kampf: mit sich selbst und ums Überleben. Obdachlosigkeit kann jede*n treffen.
TEXT: RONNY TAFERNER
FOTOS & VIDEO: JULIA PABST
Vor drei Monaten hatte Dieter seinen Musterungstermin bei der Stellungskommission: 9er-tauglich, also kerngesund. Die Freude ist groß, weil er seinem Traum einen großen Schritt näher ist. Dieter will zum Bundesheer und Pilot werden. Derzeit ist er in der vierten Klasse der HTL. Seine Mutter fährt ihn von Gänserndorf nach Wien zur Schule. Eine Fahrt, die das Leben von Dieter massiv verändert. Ein LKW-Fahrer mit 2,8 Promille kommt ihnen als Geisterfahrer frontal entgegen. In Dieters Kopf rammt sich ein knapp drei Zentimeter dickes Stahlrohr. Seine Mutter stirbt noch an der Unfallstelle. 46 Stunden und 13 Minuten lang kämpfen Ärzt*innen in einer Notoperation um Dieters Leben. Mit Erfolg. Ein Leben wie vor dem Unfall wird Dieter aber nie mehr führen können. Mit seinen 19 Jahren wiegt er 28,73 kg und liegt monatelang im Koma. Am linken Auge ist er gänzlich blind, sein rechtes ist geschwächt. Zwei Jahre, acht Monate und drei Tage ist Dieter durchgehend im Spital. Nach seinem Aufenthalt im Krankenhaus erhält er den Pensionsbescheid: Invalidenrente und 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Die schriftliche Bestätigung ist ein Schlag ins Gesicht: „Ich bin verurteilt zum Nichtstun.“
Dieters Vater verkraftet den Tod seiner Mutter nicht. Er erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird alkoholsüchtig. Alle 14 Entzugsversuche sind erfolglos. Er verkauft Aktien weit unter ihrem Preis und gibt das gesamte Ersparte der Familie aus. Mit 58 Jahren stirbt Dieters Vater an den Folgen seiner Alkoholsucht. Dieters permanente epileptische Anfälle erfordern es, dass er wegen der besseren medizinischen Versorgung nach Wien zieht. Freunde hat er nach dem langen Krankenhausaufenthalt keine mehr. „Anfangs bin ich versunken in Wut und Selbstmitleid. Das hat mich aufgefressen. Während meiner Zeit im Krankenhaus habe ich viele Schicksalsschläge von anderen mitbekommen. Schnell wurde ich dankbar, dass ich ein zweites Leben bekommen habe.“ Ein neues Leben, mit neuen Herausforderungen.
Die Bank im Votivpark, auf der Dieter mit seinem Kumpel Christian sitzt, steht unter einem schattenspendenden Baum. Kein Zufall, denn dieser Augustnachmittag zählt wohl zu den heißesten des Sommers. Mit leicht zusammengekniffenen Augen dreht Dieter sein Zigarettenpapier, solange bis die Tabakfüllung gestrafft ist. „A guade Tschick“, sagt er stolz und setzt fort: „Besser als a gekaufte.“ Heute ist Dieter 52 Jahre alt. 13 Kopfoperationen und 3.000 epileptische Anfälle hat er hinter sich. Sein Überleben gilt als Wunder und steht in zwei medizinischen Fachbüchern.
Dieter ist 52 Jahre alt. Vier Jahre lang hat er auf der Straße gelebt.
Die verzockte Existenz
Nach der Zeit im Krankenhaus erhält Dieter 1,3 Millionen Schilling (110.000 Euro) Schmerzensgeld. Vier Monate und 17 Tage dauert es, bis das Geld weg ist. Dieter wird spielsüchtig. 23 Jahre alt, ohne Geld und körperlich stark eingeschränkt gelangt er auf die schiefe Bahn. Er lässt sich dazu überreden, Heroin über die Grenze zu schmuggeln und wird erwischt. Mindeststrafe: fünf Jahre, drei davon verbringt er in Isolationshaft. Die Einsamkeit hinterlässt Spuren: „Ich habe in dieser Zeit verschiedene Persönlichkeiten angenommen und mit mir selbst Karten gespielt.“ Heute schleppt er nach wie vor zwei andere Persönlichkeiten in seinem Kopf mit. Von Zeit zu Zeit brechen sie wieder aus.
Nach dem Gefängnisaufenthalt schlittert Dieter in die Obdachlosigkeit. Fast vier Jahre lang übernachtet er in Wiens Parks. Scham ist sein ständiger Begleiter. Ein Jahr überwintert er am Karlsplatz, die restlichen Winter verbringt er in der Obdachlosenunterkunft "Gruft". „Einmal waren 141 Personen im Heim. Man ist schon fast aufeinander gelegen, Privatsphäre gab es keine. Trotzdem habe ich mich sehr einsam gefühlt und fand keinen Anschluss zu den anderen. Ich habe mich selbst isoliert.“ Alkohol trinkt Dieter keinen, das würde sich nicht mit seinen Medikamenten vertragen. „Leider sind sehr viele Obdachlose alkoholkrank. Sie sehen es als einzigen Weg, um die psychischen Erkrankungen und Schicksalsschläge zu verdrängen.“ Dieter dreht sich zu seinem Freund Christian: „Ich weiß, dass du damit sehr zu kämpfen hast. Aber du versuchst zumindest, es zu reduzieren. Ich bin stolz auf dich.“
Christian und Dieter erzählen ihre Geschichte.
Alkohol als Lebenszerstörer
Christian ist 42 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Oberösterreich. Seit drei Jahren lebt er in Wien. Unterkunft hat er keine. Derzeit ist der Votivpark sein Zuhause. Für Obdachlose sei es in Wien einfacher als in Oberösterreich. Mit einem Schmunzeln zeigt er auf eine nebenstehende Parkbank: „Das ist mein Bett. Hier schlafe ich in einem Schlafsack, und wenn es kalt wird, habe ich noch zwei Decken.“ Mehr besitzt er nicht.
Christian ist schwerer Alkoholiker. Sein täglicher Konsum derzeit: zwei Liter Wein und sieben Bier. „Es gab Zeiten, da habe ich acht Liter Wein oder 35 Bier am Tag getrunken. Mein Körper verlangt das. Wenn ich nichts trinke, dreh ich durch. Ich bin sogar schon mit dem Rollator gegangen bei einem Entzug, weil ich nicht mehr normal gehen konnte. Die Nerven haben ausgelassen.“ Der Alkohol hat Christians Leben schon seit 20 Jahren im Griff.
Als Kind wird Christian von seinen Eltern geschlagen. Mit Mitte zwanzig wird er psychisch krank. Diagnose: Borderline. Das äußerst sich etwa durch extremes Schwarz-Weiß-Denken, impulsives Verhalten und instabile Emotionen. Viereinhalb Jahre pflegt er alleine seine schwer herzkranke Tochter, bis die Krankheit ihn zum Einlenken zwingt. Seine Frau: Sie ist drogenabhängig und kurz nach der Geburt der Tochter untergetaucht. Christian gibt seine Tochter 2013 an eine Pflegefamilie ab – der wohl schrecklichste Tag in seinem Leben. Und auch der Tag, an dem er nach jahrelanger Abstinenz wieder ein Glas trinkt. Zuerst nur eins. Dann zwei, drei, vier und bald wieder über 30. Familie hat Christian keine. Er lässt sich von Freunden zu Straftaten verleiten. Es kommt zu einem Gefängnisaufenthalt.
Christians Schlafplatz
Lebensmotivation Tochter
Kraft zum Weiterleben hatte Christian schon oft keine mehr. Fünf Selbstmordversuche hat er schon hinter sich. „Beim letzten vor drei Jahren war ich schon näher auf der anderen Seite als hier. Aber meine Tochter ist immer wieder diejenige, die mir Kraft gibt. Auch wenn ich sie nicht bei mir habe und sie nicht sehen darf. Aber ich habe sie im Kopf.“ Heute ist seine Tochter elf Jahre alt, das letzte Mal mit ihr gesprochen hat er vor drei Jahren. Sein großes Ziel: sie wiedersehen. Dafür muss er aber eine abgeschlossene Therapie, eine Meldeadresse und einen geregelten Tagesablauf vorweisen. „Das ist schwierig. Wenn ich als Obdachloser in eine Psychiatrie gehe, heißt es sofort, man gehe nur wegen des Essens und Schlafens dorthin. Man wird nicht richtig ernst genommen. Eine Ärztin hat einmal zu mir gesagt, dass ich einfach aufhören muss zu trinken. Trinken sei keine Krankheit.“
Der Zusammenhalt im Votivpark unter einigen Obdachlosen ist groß und motiviert Christian dazu, weiterzuleben. „Ich fühle mich hier wie ein Mensch, weil ich auch so behandelt werde. Wir helfen uns gegenseitig und erleben Hilfsbereitschaft von manchen Leuten. Ein Herr versorgt uns regelmäßig mit Essen.“ Geschlafen hat er schon im Prater und in verschiedenen Einrichtungen für Obdachlose, die teilweise massiv überfüllt sind. Wo er im kommenden Winter übernachten wird, weiß Christian noch nicht.
Christian lebt seit drei Jahren als Obdachloser in Wiener Parks.
Im Gegensatz zu Dieter: Er hat den Schritt aus der Obdachlosigkeit geschafft. Nach fast vier Jahren auf der Straße, ist sein Großvater verstorben und hat ihm etwas Geld vererbt. Heute ist er stolzer Besitzer einer Eigentumswohnung. Angezahlt mit dem Erbe, die Raten mit seiner Invalidenrente beglichen.
In Wien gibt es laut Volkshilfe weit über 10.000 Wohnungslose. Einige hundert davon schlafen in Parks, so Schätzungen der Caritas. Christian und Dieter sind der Meinung, die meisten Menschen hätten ein negatives Bild von Obdachlosen, denn die Bevölkerung sehe sie oft nur als "Gesindel". Verstärkt werde dieses Image durch die Boulevardmedien. Dieter ist überzeugt: „Es wird oft stereotypisch das Verhalten von vielen Obdachlosen gezeigt. Die Ursachen und Gründe werden nicht beleuchtet. Kein Mensch ist grundlos auf der Straße."
Ihr Schicksal hat die zwei zusammengeschweißt. Nahezu täglich sitzen sie auf dieser Bank neben der Votivkirche. Sie plaudern, essen und trinken. „Es tut gut, wenn man mit jemanden reden kann, der die Situation kennt und weiß, wie es ist, obdachlos zu sein“, so Christian. „Mit dir kann ich über das Liebesleben der Maikäfer bis hin zu Tschernobyl über alles reden“, sagt Dieter mit einem Klopfen auf Christians Schulter. „Auch wenn ich Alkoholiker bin und obdachlos, das Leben hat trotzdem einen Sinn. Hauptsache nicht alleine sein, sonst fällt mir wieder irgendein Blödsinn ein“, antwortet Christian. Sein Schmunzeln verwandelt sich in ein Lachen.
Beratung & Hilfe
Hier findest du eine Übersicht aller Beratungs- und Anlaufstellen, wenn du von Wohnungslosigkeit betroffen bist.
Wenn du Menschen siehst, die Hilfe brauchen könnten:
1) Ansprechen und fragen, ob sie Hilfe brauchen.
2) In Notfällen unbedingt die Rettung rufen (144)
3) Für konkrete Hilfe z. B. das Caritas Kältetelefon (Wien: +43 1 480 45 53) oder Betreuungszentren wie die Gruft (Wien, +43 1 587 87 54) oder das P7 (Wien, +43 1 892 33 89) kontaktieren. Weiter Infos zum Kältetelefon findest du hier.
Brauchst du jemandem zum Reden, kannst du 24-Stunden-Telefonhotline 142 wählen. Hier wird auf deine Probleme eingegangen und dir geholfen. Mehr dazu kannst du auf dieser Seite lesen.
Leidest du unter einer Sucht und benötigst Hilfe, kannst du dich an die Suchthilfe Wien wenden.
Alle österreichweiten Beratungsstellen für Alkoholsucht findest du hier.
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