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Die Krankheit mit den tausend Gesichtern

Multiple Sklerose ist die Nervenerkrankung, die bei jungen Erwachsenen am häufigsten zu Behinderungen führen kann. Katharina bekam ihre Diagnose mit 19. Bis sie die schwerreichenden Folgen der Krankheit MS für ihr Leben akzeptieren konnte, war es ein weiter Weg.


TEXT: EDITH GINZ

FOTOS: JULIA PABST

VIDEO: JULIA PABST


Katharina lächelt, als sie ein altes Foto von sich aus einer Kiste hervorkramt. Das Bild zeigt sie vor 20 Jahren –vor der Diagnose, die ihr Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellte. Sie sitzt lässig im schwarzen T-Shirt und Jeans auf einem Barstuhl. Blonde Stirnfransen fallen ihr ins Gesicht. Konzentriert schielt Katharina auf die Geige, die sie spielt. Rechts von ihr sitzt ein Mann mit langen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren und spielt Gitarre. Im Hintergrund unterhalten sich zwei junge Männer angeregt miteinander. Mit einem der beiden war sie später auch zusammen, erzählt sie. Wieder lächelt Katharina und Lachfalten machen sich um ihre Augen herum bemerkbar.



Nach ihrem Abitur ist Katharina nach Regensburg gezogen, um Französisch und Spanisch zu studieren. Doch es kam anders: Mit gerade einmal 19 Jahren hatte sie ihren ersten Schub. Bei einem MS-Schub treten plötzlich Krankheitssymptome auf oder können auch verstärkt werden. Die Symptome können schon nach ein paar Stunden oder erst nach einigen Wochen gänzlich oder auch nur teilweise wieder verschwinden. „Von einer Nacht auf die andere war eine Seite komplett taub, das hat sich angefühlt wie eingeschlafen“, erzählt Katharina rückblickend. Das Gefühl blieb und es folgte eine Odyssee von Arztpraxis zu Arztpraxis. Als sie sogar auf dem linken Auge nichts mehr sehen konnte, wurde sie von einer Neurologin ins Krankenhaus eingewiesen. Nach den ersten Untersuchungen war schnell klar, dass Katharina – genau wie ihre Mutter – an Multipler Sklerose erkrankt war. An den Moment, als sie die Diagnose bekam, erinnert sie sich genau: „Ich habe einfach ganz ruhig reagiert. Ich hab damals gar nicht gewusst, was das bedeutet. Worauf die Ärztin meinte, dass ich das schon sehr gelassen aufnehme.“


Dieser Schub wurde mit hochdosiertem Kortison behandelt. Die Symptome gingen zurück. Somit wurde Katharina schon nach einer Woche wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Ihr Studium brach Katharina ab und zog wieder in ihre Heimat zurück, um eine Ausbildung zur Erzieherin zu beginnen. Die Schwere ihrer Diagnose begriff sie da noch nicht: „Im ersten Moment ändert sich gar nicht so viel, weil die Symptome ja wieder weg sind. Erst als ich ein Jahr später den zweiten Schub hatte, hab ich kapiert: Das ist etwas, was mich mein Leben lang begleitet.“



Wie ein Kabel ohne Isolierung


Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Folgen für Betroffene sind so unterschiedlich, dass MS auch als „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bekannt ist. Bei gesunden Menschen schützen die sogenannten Mark- oder Myelinscheiden die Nervenfasern im Körper „wie ein Kabel, das außen mit Plastik isoliert ist“, erklärt Katharina. Bei MS-Kranken ist diese Isolierschicht geschädigt und die Nervenfasern werden nicht mehr ausreichend geschützt. Dadurch kann eine Vielzahl an Symptomen entstehen, die von Gefühlsverlust bis hin zur Störung der Bewegungsfähigkeit reichen. „Ich hatte sehr oft in meinem Leben eine Augennerventzündung. Das war auch der Grund, warum ich bei meinem ersten Schub nichts mehr gesehen habe. Die sind Gott sei Dank immer wieder ohne Schäden weggegangen, aber das weiß man vorher nicht“, schildert Katharina eines ihrer wiederkehrenden Symptome.


Mit der Zeit sind Katharinas Schübe immer häufiger geworden. Und obwohl die Schübe jedes Mal wieder vorübergingen, sind manche Symptome geblieben. So sind auch ihre Beine immer schwächer geworden: „Ich habe das wirklich erst langsam gemerkt, dass ich nicht mehr so gut rennen kann." Deswegen begann Katharina mit 26 mit Krücken zu gehen. In der Zeit war sie noch sehr selbstständig: Sie fuhr Auto, ging schwimmen und machte Krafttraining. Doch seit ihrem letzten Schub 2015 ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen: „Mit dem Rollstuhl hat sich wieder ein ganz neues Leben ergeben – insgesamt. Weil natürlich vieles nicht mehr möglich war und ich seitdem auch auf dauernde Hilfe und Pflege angewiesen bin“ .


„Es gibt immer noch so Tage oder Zeiten, an denen es mir wirklich nicht gut geht. Wo mich Dinge schmerzen, auch wenn es nur ein Radfahrer ist, der vorbeifährt, weil ich mir denke: Ich möchte auch Fahrrad fahren.“

Ihre Lebenssituation zu akzeptieren ist für Katharina nicht immer einfach: „Es gibt immer noch so Tage oder Zeiten, an denen es mir wirklich nicht gut geht. Wo mich Dinge schmerzen, auch wenn es nur ein Radfahrer ist, der vorbeifährt, weil ich mir denke: Ich möchte auch Fahrrad fahren.“ Doch mit der Zeit hat sie gelernt, dass sie auf die Frage nach dem "Warum?" keine Antwort bekommen wird. Katharina war jahrelang in Psychotherapie und auch zwei Mal auf einem stationären Aufenthalt. „Das war auch notwendig, um das alles irgendwie unter die Füße zu bekommen“, sagt sie rückblickend. Katharina erzählt von beiden Seiten in ihrem Leben: Phasen in denen sie glücklich ist und sich am Leben freut, und Phasen, in denen die Frage nach dem "Warum?" präsenter ist. „Und oft geht es mir tatsächlich so, dass ich, wenn ich das Eine fühle, mir gar nicht vorstellen kann, dass ich das Andere auch fühle“, beschreibt Katharina ihre widersprüchlichen Gefühle.


Auch einen Partner und Kinder hatte sie sich schon immer gewünscht. Doch das stellte sich für Katharina als schwierig heraus. Nachdem sie keine Krücken mehr hat und im Rollstuhl sitzt, sinkt auch das Interesse von möglichen Beziehungspartner*innen. „Ich hab immer gesagt: Ich komme mir vor wie so ein schön verpacktes Geschenk und dann macht man es auf und es ist nichts drin oder so – dann ist da die große Enttäuschung“, beschreibt Katharina ihre Datingerfahrungen. Das war für sie anfangs sehr enttäuschend. Vor allem der Vergleich mit ehemaligen Klassenkolleg*innen bei Klassentreffen war oft schmerzhaft. Doch mittlerweile ist das ein Thema, mit dem sie sich abgefunden hat.


Katharina's Lachen steckt an.

Katharina's Lachen steckt alle an.



Geben und Nehmen


Heute lebt Katharina in einer WG zusammen mit Barbara – einer langjährigen Freundin. Sie kannten sich bereits vor ihrer Diagnose und haben schon in vielen Wohngemeinschaften zusammen gewohnt. Ihr Zusammenleben beschreibt sie als unglaublich lustig, aber auch als sehr wertschätzend: „Bei Barbara habe ich das Gefühl, dass es für sie auch sehr wertvoll ist, mit mir zusammen zu leben. Das ist ausgewogen zwischen Geben und Nehmen. Und das ist für uns beide wichtig.“


In dem Ort, in dem sie seit gut vier Jahren leben, engagiert sich Katharina ehrenamtlich bei der Bürgerhilfe. Das Gefühl, etwas beisteuern zu können, bedeutet ihr viel: „Wenn ich merke, dass die Leute sich auch freuen, wenn ich dabei bin. Ich kann auch was geben.“ Dabei wird ihre Hilfe nicht nur von Schüler*innen beim Home-Schooling gebraucht, auch auf Feiern ist sie ein gern gesehener Gast.


Katharina mit ihrer 24-Stundenpflegerin Janka.

Katharina gemeinsam mit ihrer 24-Stundenpflegerin Janka. Über das Geschäft mit der 24-Stundenpflege haben wir bereits eine Schwerpunktgeschichte veröffentlicht.



Der Blick in beide Richtungen


Auch im Glauben schöpft Katharina viel Kraft: „Gerade weil es im Glauben nicht darum geht: Du bist nur jemand, wenn du was hast, wenn du was verdienst – wenn du viel verdienst. Das waren ja alles Dinge, die mir so nicht gegeben waren und dass ich trotzdem wertvoll bin irgendwie.“


Eine Ärztin sagte zu Katharina einmal: „Sie sind irgendwo so in der Mitte. Es gibt ganz viele, denen geht es viel besser, und ganz viele, denen geht es viel schlechter.“ Dieser Satz hat Katharina sehr geholfen, dankbar für die Dinge zu sein, die ihr möglich sind. Beispielsweise kann sie lesen und schreiben, oder einen Computer bedienen. Auch über die Möglichkeit, mit ihrer Freundin Barbara in einem Miethaus zu wohnen, statt in einem Heim, ist sie sehr glücklich. Ihr Rat ist es, sowohl das Schlechte als auch das Gute im Leben zu sehen: „Ich glaube was einem sehr hilft, ist, wenn man den Blick in beide Richtungen wendet. Mir zumindest hat’s immer geholfen.“

 

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Im Rahmen unserer Rubrik Berufsbilder haben wir uns mit dem Geschäft der 24-Stundenpflege auseinandergesetzt. Dabei hat uns die 24-Stundenpflegerin Janka erzählt, was sie dazu bewegt, die Pflege für fremde Menschen zu übernehmen auch wenn das bedeutet, dass sie auf ihre eigene Familie wochenlang verzichten muss.





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