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Zeitgenössischer Circus: Vom Etablieren einer Kunstform

Wer beim Wort „Zirkus“ an dressierte Raubkatzen, waghalsige Schwertschlucker und laute Clowns in zu großen Schuhen denkt, kennt Zeitgenössischen Circus nicht. Diese Kunstform – aufgrund der frankokanadischen Entstehungsgeschichte auch bekannt als „Cirque Nouveau“ – arbeitet nicht mit Tieren oder kolonialistisch geprägten Kuriositäten-Kabinetten, sondern mit Tanz, Akrobatik, Jonglage, Schauspiel, Musik und viel Poesie.


TEXT: SIRI MALMBORG

VIDEO: HANNAH LEHNER

FOTOS UND CO-REDAKTION: JULIA KLUK


In etwa fünf Metern Höhe hängt Pamina Milewska kopfüber, die Beine über sich im Spagat ausgestreckt. Die einzige Sicherung: ihre eigenen Arme. Mit diesen hält sich die Artistin an einem lila Tuch fest, das von der hohen Decke eines Vier-Mast-Zirkuszelts bis an den Boden hinunter baumelt. Es ist ein Vertikaltuch, wie man es in der Luftakrobatik verwendet, und es befindet sich im CircusTrainingsCentrum (CTC) in Salzburg. Hier engagiert sich der Verein MOTA (Motorik – Tanz – Artistik) - einer jener Vorreiter, die dabei sind, die Szene für Zeitgenössischen Circus in Österreich aufzubauen.



Schon von außen ist die Trainingsstätte imposant: Weiß-grau gestreift erhebt sich das Zirkuszelt mit seinem rot-orangen Vorzelt vor der Kulisse des Salzburger Kühbergs im Stadtteil Gnigl. Im Inneren wirkt und werkt der Verein MOTA unter der Leitung von Brunhilde ‚Bruni‘ Neumayer und Wolfgang ‚Beme‘ Neumayer. Seit 2018 trainieren hier jede Woche Kleinkinder, Jugendliche, Student:innen im Rahmen des Universitätssportinstituts, Erwachsene und professionelle Artist:innen. Die vier Hauptdisziplinen bei angeführten Trainings: Jonglage, Akrobatik, Luftartistik und Balance.


Das Circus-Trainingszelt des Verein MOTA erhebt sich vor der Kulisse des Salzburger Kühbergs

Das Vier-Mast-Zelt ist seit 2018 für Circusbegeisterte offen © Julia Kluk



Die Circusschmiede


Pamina hat sich mittlerweile an den Hüften in das Tuch eingewickelt. Sie lässt sich fallen und überschlägt sich drei Mal, bevor sie sich einen Meter über dem Boden auffängt. Ihr Blick fällt auf ihre Zehen, die sie streckt und beugt, als hätte sie sie gerade erst entdeckt. Schlagartig rafft sie sich aus der vermeintlichen Ruhepose auf und klettert am Tuch hoch, bis sie das Deckengerüst erreicht. Von dort oben überblickt sie das gesamte Trainingszelt.


Da ist eine Airtrackbahn und eine Tumblingbahn - zwei verschiedene Arten von Mattenböden für Akrobatik. Da ist eine Schnitzelgrube; ein großes, in den Boden eingelassenes Trampolin; eine Handstandfläche mit erhöhten Griffen; Kästen mit Jonglierbällen, -keulen und Diabolos. Links und rechts von Pamina hängen weitere Vertikaltücher in verschiedenen Farben auf einen dicken Mattenboden hinunter. Von der Decke baumeln Luftringe, besser bekannt als „Aerial Hoops“, Trapeze und ein Sicherungssystem für Gruppenakrobatik - eine "Longe". Viele weitere Geräte, denen Außenstehende nur schwer die vorgesehene Nutzung zuordnen können, sind im Raum verteilt. Sprossenwände, Spiegelwände und Einräder an den Seiten - eine große, mit Matten ausgelegte Fläche im Zentrum.


Ein Mädchen dehnt ihren Spagat auf der Mattenfläche des Trainingszelts, im Hintergrund trainieren weitere Jugendliche

Akrobatik, Tanz, Jonglage oder Luftartistik - die Ausstattung im CTC ist da © Julia Kluk


Auf dieser Fläche macht die Intensivgruppe von MOTA eine Stunde später Bauchmuskelübungen, angeleitet von Brunis und Bemes Tochter Heidi, und Beme selbst. Die Intensivgruppe ist eine Handvoll besonders engagierter Jugendlicher, die hier bis zu vier Mal in der Woche ihre Kraft und Ausdauer trainiert, sich dehnt und dann Gruppenakrobatik sowie andere Disziplinen übt. Die Gruppe arbeitet auch an Stücken, mit denen sie in der Vergangenheit zum Beispiel beim „Winterfest, den alljährlichen Circusfestspielen in Salzburg, auftraten. Im Sommer 2021 nahm die Intensivgruppe am Erasmus+-Projekt "Circus sichtbar machen" teil, das der international gut vernetzte Verein MOTA zusammen mit einer deutschen, einer französischen und einer schwedischen Gruppe organisiert hatte.



Kunst statt Konkurrenz


Ein Workshop mit elf Kindern in einer Salzburger Volkschule war 2011 der Grundstein für den Verein MOTA und für das, was heute die best-ausgestattete Circustrainingsstätte Mitteleuropas ist. „Circus ist mir passiert“, antwortet Bruni auf die Frage, wie sie zu dieser Kunstform gelangt ist. Nach vielen Jahren als Trainerin im Wettkampfbereich der Rhythmischen Gymnastik, im Turnen und als Sozialpädagogin fand sie schließlich im Zeitgenössischen Circus und im Verein MOTA all das vereint, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte. „Es hat sozialpädagogische Aspekte, es ist eine pädagogische Arbeit, eine künstlerische Arbeit, es ist auch Trainerarbeit, es ist Tanz, Musik - alles, was ich irgendwie in meinem Leben betrieben habe, läuft zusammen.“


Bruni und Beme Neumayer lächeln

Beme und Bruni hatten die uninteressanten Vorschriften im Leistungssport satt © Julia Kluk


Auch Beme kommt ursprünglich aus dem Leistungssportbereich: Er war früher Konditionstrainer im Austria Skiteam, Turner und Turntrainer. Bruni und er sprechen beide über die unkreativen Vorschriften im Leistungssport. „Als Turntrainer weiß ich, wenn ein Turner mit zwölf Jahren bestimmte Elemente nicht kann, dann wird er im Bereich des Leistungssports Turnen nicht weiterkommen. Beim Circus ist es unerheblich, ob der Artist, die Artistin, mit zwölf oder mit 20 Jahren den Salto macht“, sagt Beme. „Es gibt bei uns keinen Wettkampf. Es gibt dadurch auch nicht diese Normen, wie sie bei Sportarten vorkommen, das heißt, wir können viel freier arbeiten.“


Seit ihrem Einstieg in die Circuskunst leisten Bruni und Beme mit dem Verein MOTA harte Arbeit, um allen den Zugang zu Zeitgenössischem Circus in Österreich zu ermöglichen und den Menschen die Augen für diese Kunstform zu öffnen. Denn: Während die Szene in Frankreich bereits etabliert ist, steckt sie in Österreich noch in den Kinderschuhen. „Wir sind in irrsinniger Aufbruchsstimmung einerseits – andererseits ist natürlich die Basis, wie sie in Frankreich ist, mit über 130 Circusschulen, noch lange nicht da und es fehlt natürlich auch die Community, die den Circus dann trägt“, sagt Beme. Die Szene entwickelt sich hauptsächlich im urbanen Raum – in so gut wie allen österreichischen Landeshauptstädten findet sich mittlerweile ein Circusangebot. In Wien, Vorarlberg und Tirol tut sich viel und mittendrin, in Salzburg, steht das CTC.



Circus Studieren


Auf der Mattenfläche des Zelts spannt sich nun ein Mädchen der Intensivgruppe den Sicherungsgürtel um. Kurze Zeit später hat sich eine Dreier-Pyramide geformt: Das gesicherte Gruppenmitglied steht aufrecht auf den Schultern eines anderen Mitglieds, das wiederum auf den Schultern eines dritten Mitglieds steht. Dieses dritte Mitglied ist Melanie Klampfer. Derzeit bereitet sie sich auf Aufnahmeprüfungen für weiterführende Circusausbildungen vor und trainiert dazu vier bis fünf Mal die Woche neben der Schule. Mit den beiden Einzeldisziplinen Handstand und Trapez möchte sie sich zunächst an einer Prep-School bewerben. In diesen Schulen wird man auf die schwierigen Aufnahmeprüfungen der professionellen Circusuniversitäten vorbereitet. Besonders interessant findet sie die Prep-Schools in Lyon und in Barcelona. In Österreich kann Melanie zum Studieren nicht bleiben, weil es das nötige Angebot dafür nicht gibt.


Ein jüngeres Mädchen steht auf den Schultern einer anderen, die wiederum auf den Schultern eines dritten Mädchens steht. Beme sichert die Dreier-Pyramide mit einem Sicherheitsgurt ab.

Mit der Longe sichert Beme die Dreier-Pyramide ab © Julia Kluk


Dabei habe es in Salzburg schon Anläufe zur Einführung eines Studiums gegeben, erzählen Bruni und Beme. „Beim ersten Vorstoß hat uns der Vizerektor gesagt: ‚Ah, jetzt wollt ihr die Clowns mit der roten Nase da installieren‘“, sagt Beme. „Wir sind also noch weit davon entfernt, dass der Zeitgenössische Circus auch in der breiten Schicht der Bevölkerung als Kunstform angesehen wird.“ In kleinen Schritten geht es in diese Richtung: Beispielsweise inszenierte die Regisseurin Lydia Steier bei den Salzburger Festspielen im Jahr 2018 Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ voller zirzensischer Elemente. Zeitgenössischer Circus wird außerdem zunehmend mit Tanz verknüpft und ins Theater eingebunden. Momentan trifft man im CTC auf Schauspieler:innen und Opernsänger:innen des Salzburger Landestheaters, die hier eine Grundausbildung in der Circuskunst erhalten.



Alltag in einer Prep-School


So vielfältig wie die Kunstform selbst ist auch die Ausbildung. Der 20-jährige Valentin Thalmayr trainierte bis ins vergangene Jahr wie Melanie in der Intensivgruppe von MOTA. Jetzt ist er in der Prep-School „FLIC Scuola di Circo“ in Turin untergekommen. Zusätzlich zu seiner Einzeldisziplin Acrodance hat er dort Fächer wie Zeitgenössischen Tanz, Ballett, Theater, Akrobatik, Stimmbildung und theoretische Fächer wie Sportkunde, Ernährung und Circusgeschichte. Jeden Morgen wärmen sich die Schüler:innen 20 Minuten lang gemeinsam auf und alle ein bis zwei Monate gibt es eine „Creation“, bei der zusammen mit Choreograf:innen parallel zum normalen Unterricht an einem Stück gearbeitet wird.


Valentin hält sich mit einem Arm an der Sprossenwand fest. Im Hintergrund klettern noch mehr Jugendliche auf den Sprossen.

An der Prep-School trainiert Valentin hart, um später an eine Superior School zu kommen ©wildbild.at


Valentins Prep-School ist privat, wie viele der momentan verfügbaren Circusausbildungen. Er zahlt 1.600 Euro im Semester. „Sie haben uns schon bei der Audition gefragt, wie ich mir das leisten werde. Sie erlauben nämlich nicht, dass man währenddessen arbeitet. Die Schule nimmt dafür viel zu viel Zeit und Energie ein", sagt Valentin. Seine Eltern unterstützen ihn bei seinem Vorhaben, seine Leidenschaft für Circus aufs professionelle Level zu bringen. Am Anfang hätten sie es nicht so cool gefunden und es nicht ganz ernst genommen, sagt Valentin. Aber: „Ich habe meine Eltern zwei bis drei Jahre lang darauf vorbereitet, dass es zu dem Punkt kommen wird. Ich glaube, so absurd es klingt, es beruhigt sie etwas, dass ich danach vorhabe, eine Superior School zu machen und dass man da einen akademischen Abschluss bekommt.“



Existenzsicherung als Artist:in


Obwohl viele Schulen noch privat sind, verbessern sich die Rahmenbedingungen für Artist:innen, wenn auch langsam. Seit drei Jahren ist Circuskunst förderbar. Das bedeutet, dass Artist:innen sich als Künstler:innen versichern können, was wiederum einen großen Unterschied im Versicherungsbeitrag mache, sagt Bruni. Sie verweist auf das Circus-Vorreiterland Frankreich: „Dort ist es sowieso ganz was anderes. Die haben ein anderes System, was Kunst und Künstler betrifft. Da gibt es Krankenversicherungen und Arbeitslosengeld für arbeitslose Künstler.“


Pamina hat ihre Füße auf ein paar Metern Höhe ins Vertikaltuch eingewickelt und hält sich am Tuch fest

Pamina entdeckte auf ihrem Erasmussemester in Spanien die Tuchakrobatik für sich © Julia Kluk


Das Berufsbild von Artist:innen kann sehr verschieden ausfallen. Manche gründen eigene Circuskompanien oder arbeiten projektweise, andere unterrichten oder kombinieren Circus mit weiteren Ausbildungen. Pamina studierte Zeitgenössischen Bühnentanz und Tanzpädagogik, erhielt übers Studium Stipendien und nahm an Projekten der non-formalen Bildung wie dem EU-Programm „Jugend in Aktion“ teil. Seit 2015 arbeitet sie beim „Theater ecce“ - einem kleinen, alternativen Theater in und um Salzburg, das mit Akrobatik, Schauspiel, Tanz und Livemusik arbeitet. Zudem unterrichtet sie an der Kindertanzschule ihrer Mutter und an der Kunsthochschule Mozarteum, gibt verschiedene Workshops und wirkt hin und wieder an Musikvideos mit.


„Irgendwie fühle ich mich schon ein bisschen verantwortlich dafür, Circus in Österreich zu verbreiten.“

Melanie ist schon ein wenig genervt davon, ständig erklären zu müssen, dass sie nicht in Zirkuskarawanen auf Tour geht, Tiere dressiert oder in einer Manege steht. Sie möchte diese Missverständnisse auflösen und den Zeitgenössischen Circus mit mehr Menschen teilen: „Irgendwie fühle ich mich schon ein bisschen verantwortlich dafür, Circus in Österreich zu verbreiten.“ Indem Zeitgenössischer Circus zunehmend als Kunstform etabliert wird, ändern sich die Assoziationen, die Menschen mit Zirkus haben – weg von Tigern in brennenden Reifen und Elefanten in zu kleinen Manegen, hin zu einem magischen Ort, an dem alle Kunstformen zusammenkommen. Pamina formuliert eine mögliche Definition so: „Circus ist ein Kreis, in dem sehr viele Dinge Platz haben. Zum Beispiel Musik, Tanz, Akrobatik, Scheitern und Spielen.“

 

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