Oskar kann sich ein Leben ohne ChiChi nicht mehr vorstellen. Sie hat ihn aus seinem alten Leben befreit: Ein Leben, in dem er eine Rolle spielen musste, um akzeptiert zu werden.
TEXT: RONNY TAFERNER
VIDEO: LOUIS EBNER
FOTOS: JULIA PABST
Seine Verwandlung zelebriert Oskar: Oft hört er Musik, schaut nebenbei einen Film, isst zwischendurch und denkt nach. "Das dauert schon so drei, vier Stunden, bis mein Make-up fertig ist und ich im Outfit stehe." Zuerst bereitet er seine Haut auf den Prozess gründlich vor – mit reichlich beruhigender Gesichtscreme, um von den drei Schichten Make-up nicht zu sehr gereizt zu werden. Detailverliebt und akribisch streicht Oskar mit dem Pinsel über sein Gesicht. Wie ein Künstler, der an einem Gemälde arbeitet – und mit jedem Tupfen Make-up immer mehr selbst zum Kunstwerk wird. Der knallrote Lippenstift, die Wimperntusche und der glitzernde Lidschatten verleihen dem Gesicht einen markanten Zug. Bevor Oskar die schwarze Perücke mit glatten Haaren und leichten Locken an den Spitzen aufsetzt, wendet er einen Geheimtrick unter Dragqueens an: Er zieht zwei Klebestreifen, die seitlich der Augen befestigt sind, mit einer Schnur nach hinten und bindet sie am Hinterkopf zusammen – das lässt die Augen größer wirken. An die Schmerzen im Dragoutfit hat sich sich Oskar gewöhnt. Es sind Schmerzen, die er gerne bereit ist zu zahlen, um ChiChi zu sein. Genauer: ChiChi the Queen Gonzalez.
Oskar ist 29 Jahre alt und wächst in Mexiko auf. Seit fünf Jahren lebt er als Opernsänger in Wien – mittlerweile verheiratet mit seinem Mann. Im Sommer 2017 schaut er sich zum ersten Mal eine Dragqueen-Show im Fernsehen an. Diese Begegnung mit der Dragqueen-Szene prägt Oskar. Immer stärker werden seine Gedanken, sich selbst in eine Dragqueen zu verwandeln. Kurze Zeit später probiert er es aus und hat sofort eine Leidenschaft dafür entwickelt. "Ich liebe Fashion, Make-up und Perücken. Ich liebe Singen und auf der Bühne zu stehen. Bei Drag kommt das alles zusammen – dadurch kann ich mich ausdrücken. Es gibt mir Freiheit und Sicherheit. Durch Drag habe ich mich selbst gefunden."
Kräftig grüne Augen sind ChiChis Markenzeichen
Männlich spielen
Kleider und Highheels faszinieren Oskar schon seit eh und je. Als Kind durchwühlt er heimlich den Kleiderkasten seiner Mutter und schlüpft in ihre Schuhe. Diese Faszination nun so offen auszuleben war lange Zeit nicht möglich für ihn. Er wächst in einem konservativen Umfeld auf. "In Mexiko ist die Macho-Kultur sehr stark verbreitet. Männer dürfen sich nicht feminin verhalten. Schon als Kind hat mein Vater mein Verhalten stets kontrolliert. Ich durfte nicht mit Puppen spielen, keine rosa Kleidung tragen und bin oft zurechtgewiesen worden, dass ich männlicher gehen soll und mich verhalten soll wie ein Mann." Oskar bekommt Ängste und hat immer öfter das Gefühl, eine Rolle spielen zu müssen. Die Aussagen seines Vaters wirken auch noch zu Beginn seiner Dragqueen-Zeit nach und lassen ihn immer wieder gegen seine Feminität kämpfen. Bis er sich schließlich davon lösen kann und merkt, dass er sich weder nur als Mann noch nur als Frau identifiziert.
Oskar ist non-binary. Darunter versteht man Menschen, die sich nicht durch die kategorischen Geschlechter Mann und Frau repräsentiert fühlen. Im Unterschied zu Transgender, wo sich betroffene Personen mit dem biologisch anderen Geschlecht identifizieren. Oskar mag seine feminine Seite etwas lieber als seine maskuline, fühlt sich jedoch in seinem männlichen Körper wohl. "Männlich und weiblich – das sind beide Seiten, die in mir sind. Die wohnen in mir. Ich bin so feminin wie ich maskulin bin. Wieso soll ich mich mit einem Geschlecht identifizieren und sagen: 'Ja ich bin ein Mann und wie ein Mann spielen – oder wie eine Frau spielen?' Wieso kann ich nicht beide Seiten genießen - und so leben wie ich bin."
Drag als Kultur
Es sind die kräftig grünen Augen, die ChiChi so einzigartig machen und auf die sie angesprochen wird. "ChiChi ist eine Beautyqueen und Sängerin. Drag ist eine sehr persönliche und individuelle Sache. Deswegen gibt es auch so viele verschiedene Arten davon.“ Fashion-Queens legen vor allem Wert auf Mode, Clown-Queens machen Comedy und als Baby-Queens werden Neulinge in der Dragqueen-Szene bezeichnet. Eine Frau, die einen Mann darstellt, wird Dragking genannt. Bio-Queens sind Frauen, die sich als Drag-Queen verkleiden, Bio-Kings sind als Drag-King verkleidete Männer – im Unterschied zur Travestie-Kunst, wo der*die Künstler*in in verschiedene Frauenrollen schlüpft und prominente Frauen imitiert oder parodiert, gibt es bei Dragqueens meist nur eine Rolle mit einem Dragnamen. Die Grenzen zwischen den Begriffen sind jedoch verschwimmend.
Die Drag-Kultur ist über 100 Jahre alt und der Begriff Dragqueen findet seinen Ursprung um 1900. Damals war es mancherorts verboten für Frauen auf Bühnen aufzutreten, weshalb sich Schauspieler als Frauen verkleideten. Drag bedeutet "schleppen" und entstand vermutlich wegen der Schleppe an langen Kleidern. Heute sind Dragqueens längst nicht mehr nur in der LGBT-Szene bekannt. Auftritte mit akrobatischen Einheiten und Tänzen bei Partys werden vor allem in Großstädten immer beliebter. Auch ChiChi verzaubert ihr Publikum in den Shows – mit ihrem Gesang und Tanz. Inzwischen sind die regelmäßigen Auftritte ein Nebeneinkommen für sie geworden. Mehr als 10.000 Euro hat sie bereits für Perücken, Outfits und Make-up ausgegeben. Von alldem weiß ChiChis Familie in Mexiko nichts. Zu schwierig war alleine das Coming-Out als homosexuell.
Für das Schminken und Anziehen nimmt sich ChiChi viel Zeit - bis zu vier Stunden
Zwei Coming-Outs
Wenn Oskar über ChiChi spricht, beginnt er zu strahlen. Für ihn ist ChiChi viel mehr als eine Kunstfigur. ChiChi ermöglicht es ihm, so zu sein wie er ist – ohne Zwänge, ohne Druck. Sie hat ihm in schwierigen Lebensphasen geholfen und dazu beigetragen, seine Vergangenheit zu bewältigen. "Sie ist meine Heldin, mein Anker, sie hat mein Leben gerettet. Ich könnte mir ein Leben ohne ChiChi nicht mehr vorstellen", sagt er während eine Träne über seine Wangen kullert und eine Rille im Make-up hinterlässt.
Früh schon merkt Oskar, dass er sich zu Jungs hingezogen fühlt. Mit 18 hat er einen Freund. Immer größer wird die Angst, auf der Straße von Bekannten und Verwandten mit seinem Freund gesehen zu werden. Er hinterlässt seinen Eltern einen Brief bevor er in die Schule fährt – persönlich über seine sexuelle Orientierung mit ihnen zu sprechen traut er sich nicht. "Als ich dann am Abend nach Hause kam, hat mir mein Vater vorgeworfen, dass ich nicht mutig genug sei, um es ihm ins Gesicht zu sagen und dass ich meine Mutter schwer verletzt habe. Ich hatte sehr viel Angst in dem Moment, ja ich hatte regelrecht Panik. Mein Vater hat gesagt: ‚Wenn du wirklich so leben willst, dann musst du ausziehen. Es gibt keinen Platz für dich in meinem Haus." Oskar sieht nur einen Ausweg: "Ich habe dann gesagt, dass ich nicht als Homosexueller leben will und alles geben werde, um heterosexuell zu werden." Seine Eltern schicken ihn ein Jahr lang zu einer Konversionstherapie – eine Therapie, die seine Homosexualität austreiben soll.
Heimlich trifft sich Oskar mit Jungs. Er führt ein Doppelleben: „Der Druck und der Stress waren so groß, jeden Tag so zu leben. Ich war nicht ich selbst. Ich war ein anderer Mensch – der Mensch, den meine Eltern wollten.“ Als Oskar 22 ist und die Uni besucht spricht er mit seiner besten Freundin über seine Situation. "Sie hat zu mir gesagt: 'Stell dir vor, du kommst mit einer Frau zusammen, heiratest und bekommst Kinder. Es wird ein Moment kommen, wo du das nicht mehr halten kannst – wo du nicht mehr glücklich sein kannst. Und dann wirst du heimlich einen anderen Mann treffen. Du tust der Frau und den Kinder weh – und dir selbst. Das ist nicht fair - für keinen." Dieser Satz ermutigt Oskar, dem Doppelleben ein Ende zu setzen. Als Oskar nach Hause kommt, zeigt ihm sein Vater ein Foto, das er auf Oskars Laptop gefunden hat – von ihm und seinem Freund. "Er hat gesagt: 'Wir müssen reden.' Und ich habe gesagt: 'Ja, wir müssen reden. Er ist mein Freund – ich bin schwul." Sein Vater reagiert gleich wie damals vor vier Jahren: "Wenn du so leben willst, musst du gehen." Oskar zieht aus.
Lange hat es gedauert, bis sich Oskar von Geschlechterrollen lösen konnte
Die Botschaft
Die Community an Dragqueens ist in Österreich vergleichsweise klein. Dennoch nimmt ChiChi eine leichte Zunahme an neuen Dragqueens wahr – die meisten in Österreich gebe es in Wien. "Ich wurde noch nie negativ angesprochen auf der Straße. Ich weiß aber, dass Dragqueen-Freunde in Kärnten oder Tirol sich nicht sicher fühlen." Vor allem im ländlichen Raum fehle oft das Verständnis und die Akzeptanz.
Dabei ist Drag viel mehr als nur Verkleiden, Schminken und Unterhalten. Viele Dragqueens wollen mit ihrem Auftreten ein sozialpolitisches Statement setzen und das heteronormative Zweigeschlechtersystem Mann-Frau in Frage stellen. Schon in der Vergangenheit fungierten Dragqueens auch als Galionsfigur der Homosexuellenbewegung – wie etwa bei den ersten LGBT-Protesten in Stonewall. "Drag ist politisch. Wir gehen gegen das, was gesellschaftlich angesetzt wird."
ChiChi will mit ihren Auftritten für Toleranz, Freiheit und Akzeptanz kämpfen – und vor allem LGBT-Personen helfen, die Diskriminierungserfahrungen erleiden mussten. "Als Dragqueen hat man eine große Bühne. Und man sollte diese Bühne nutzen, um Menschen in der queeren Community zu helfen und sich gegenseitig zu stärken."
Infos und Hilfe
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Wenn du Unterstützung für dein Coming-Out brauchst oder Fragen hast, ist die HOSI Wien ein guter Ansprechpartner. Jeden Donnerstagabend veranstaltet die HOSI einen Jugendabend statt, wo du dich mit jungen queeren Menschen vernetzen kannst.
Weitere LGBT-Organisationen österreichweit, an die du dich wenden kannst, findest du hier aufgelistet.
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Anjo werden bei seiner Geburt die Merkmale einer Frau zugeschrieben, obwohl er sich wie ein Mann fühlt. Er ist gefangen im falschen Körper. Je älter er wird, desto schlimmer wird es. Schließlich entscheidet er sich für eine Hormonbehandlung. Seine ganze Geschichte liest du hier.
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