top of page

Eins, zwei, viele - Polyamore Menschen erzählen

Die große Liebe finden. Das wird in den meisten westlichen Kulturen als eines der großen Ziele im Leben eines Menschen gesehen. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass nach wie vor der Großteil der Menschen in einer Zweierbeziehung lebt. Aber kann man auch zwei Menschen gleichzeitig lieben? Oder drei? Oder vier? Oder viele? Und wie funktioniert das dann? Das Konzept heißt Polyamorie.


TEXT: URSI ZAISER

VIDEO: HANNAH LEHNER

ILLUSTRATION: CARLA MÁRQUEZ


Kerstin ist mit Hendrik verheiratet und arbeitet als Buchhalterin. Sie leben in Hamburg. Kolja ist mit Katja verheiratet und führt ein kleines Technikunternehmen. Sie leben zusammen mit ihrem sechsjährigen Sohn in der Nähe von Frankfurt in einem gemeinschaftlichen Wohnen, in dem insgesamt dreizehn Menschen ihr Zuhause haben. Was diese beiden Paare verbindet: Kerstin ist nicht nur Hendriks Ehefrau, sondern auch seit acht Jahren in einer romantischen Beziehung mit Kolja. Außerdem haben beide noch einige weitere Beziehungen außerhalb ihrer Ehe, die mehr oder weniger fest sind. Genauso halten es ihre Ehepartner*innen. Sie alle leben polyamor.



Polyamorie = vielfache Liebe


Poly ist Griechisch und bedeutet „mehrere, viele“. Amorie kommt vom lateinischen Wort „amor“ für Liebe. Polyamorie bedeutet also vielfache Liebe. Sie ist das Gegenstück zur Monogamie, der klassischen westlichen Form der Beziehung. Dabei ist ein Mensch mit nur einem anderen Menschen zusammen. Polyamor lebende Menschen führen Beziehungen mit mehr als einer Person. Wie viele das sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Jede polyamore Konstellation sieht anders aus und es gibt keine vorgegebenen Regeln, wie sie zu funktionieren hat. Die involvierten Menschen legen die Regeln ihrer Beziehung vollkommen frei mit ihren Partner*innen fest, unabhängig von gesellschaftlichen Normen. Partner*innen kommen, und gehen vielleicht auch wieder. Nicht alle haben zwangsläufig etwas mit allen. Wichtig ist, dass sich dabei alle wohlfühlen, alle zustimmen und alle voneinander wissen.


Es gibt auch polyamore Menschen, die in einer geschlossenen Beziehung leben, allerdings mit mehr als zwei Menschen. Ein polyamores Dreiergespann wird beispielsweise „Throuple“ genannt (von Englisch „three“ und „couple“). Typischerweise sind hier alle drei (oder vier, oder fünf…) in einer Beziehung miteinander. Niemand von den Beteiligten hat sexuelle oder romantische Kontakte außerhalb der Beziehung.


Polyamorie gibt es in vielen verschiedenen Formen und Farben. Einige davon sind hier abgebildet.


Wie wird man polyamor?


Sowohl Kerstin als auch Kolja haben für einige Zeit in monogamen Beziehungen gelebt. Ihre Einstiege in Polyamorie waren sehr unterschiedlich. „Bei mir ist da tatsächlich irgendwas im Gehirn verknotet, sodass ich Eifersucht praktisch nicht kenne“, erzählt Kolja. Deswegen hat er sich sogar gefreut, als seine Frau ihm eines Tages erzählt hat, dass sie Interesse an einem Arbeitskollegen hat. Mit diesem ist sie bis heute zusammen und er ist gleichberechtigter Co-Vater ihres Sohnes. Wenig später hat auch Kolja begonnen, weitere Beziehungen einzugehen und sexuelle Kontakte außerhalb seiner Ehe mit Katja zu haben.


Kerstin ist über die BDSM-Szene auf offene Beziehungen und Polyamorie gestoßen. Als sie mit ihrem Mann Hendrik zusammengekommen ist, war von Anfang an klar, dass sie in einer offenen Beziehung leben wollen, in der es in Ordnung ist, mit anderen Menschen Sex zu haben oder zusammen zu sein – immer mit Wissen der anderen Person. Geheiratet haben die beiden trotzdem. Das hatte mehrere Gründe, auf der einen Seite rechtliche und steuerliche Vorteile. Aber auch emotionale Gründe standen dahinter. „Ich persönlich bin jemand, der großen Wert auf langfristige, sichere Beziehungen legt", erklärt Kerstin. "Und so eine offizielle Bindung nach außen ist natürlich ein anderes Signal, als wenn man sagt: ‚Wir sind zusammen und schauen mal, wie lang’s geht.‘“


Kerstin würde deshalb gerne sowohl Hendrik als auch Kolja heiraten können. Allerdings ist es weder in Deutschland noch in Österreich möglich. „Aber eigentlich gibt es keinen Grund, warum das nicht möglich sein sollte. Eine Firma kann ja auch mehr als zwei Teilhaber*innen haben“, meint sie. Es gibt aber auch polyamore Menschen, die die Ehe vollkommen ablehnen, weil sie sie als Einschränkung betrachten.


"Viele stellen sich unter Polyamorie eine Orgie vor. Und wir Polys sagen immer: Na ja, eigentlich ist das ein geteilter Google-Kalender, wo wir mit Zeitblöcken jonglieren.“

Zwischen Romantik und Organisation


Zu Polyamorie gehört mehr als einen Menschen zu lieben. „Nur weil man mehrere Menschen liebt, heißt das nicht, dass man im Alltag gut damit zurechtkommt. Man muss also immer noch Fähigkeiten entwickeln, damit man im Alltag gut damit umgehen kann. Liebe löst nicht alle Probleme“, sagt Kerstin. Zu diesen Fähigkeiten gehören für sie Zeitmanagement, der Umgang mit Eifersucht und den eigenen Bedürfnissen sowie Selbstreflexion. Das bedeutet für Kerstin auch, dass Polyamorie erlernbar ist, und einem dabei vieles über sich selbst beibringt. „Ich lerne immer noch viel über mich und über die Leute um mich herum. Und für manche ist es tatsächlich eine steile Lernkurve.“


Abgesehen von den eigenen Fähigkeiten erzählen Kerstin und Kolja noch von einigen anderen Dingen, die Polyamorie überhaupt erst ermöglichen. „Es hat schon einen Grund, warum die Polyszene so weiß und bürgerlich ist, weil das Bildungsbürgertum diese Vorstellung, dass sie ihre Welt selbst gestalten können, einfach mehr verinnerlicht hat“, meint Kolja. Sich mit dem eigenen Lebensstil unter Umständen gegen die Werte der eigenen Familie zu stellen, kann für viele schwierig sein, die aus einem Umfeld mit weniger Privilegien kommen und es sich daher nicht erlauben können, aus der Reihe zu tanzen - auch wenn ihre Bedürfnisse oder Lebensvorstellungen anders sind, als von ihnen erwartet wird. Eine Masterarbeit zum Thema Polyamorie kommt zu dem Ergebnis, dass Menschen, die aus einer konservativen Familie kommen, besonders am Beginn eines polyamoren Lebensstils Schwierigkeiten haben, damit offen umzugehen und die Normen, die ihnen von klein auf vermittelt wurden, abzulegen.


Kerstin im Online-Interview mit amrand.at


Abseits der eigenen Moralvorstellungen und Normen müssen aber auch die Umstände passen. Es ist wichtig, genügend Zeit für alle Partner*innen zu haben - je nach deren Bedürfnissen. „Es gibt da die Vorstellung, dass das alles fair und gerecht zugehen muss und dass man dann gleich viel Zeit mit allen Partner*innen verbringen muss. Aber das ist Quatsch, denn die Leute brauchen nicht alle das gleiche“, erklärt Kolja. Kerstin erzählt auch davon, dass es für sie wichtig ist, dass sie das Geld für regelmäßige Zugfahrten zu Kolja hat, weil die Fernbeziehung sonst viel schwieriger wäre. „Viele stellen sich unter Polyamorie eine Orgie vor“, meint Kerstin. „Und wir Polys sagen immer: Na ja, eigentlich ist das ein geteilter Google-Kalender, wo wir mit Zeitblöcken jonglieren.“



Eifersucht ist normal


Auch in polyamoren Beziehungen ist es normal, dass die Beteiligten manchmal eifersüchtig aufeinander sind. „Es gibt natürlich die wenigen Ringeltauben, die wirklich nie eifersüchtig sind, aber das sind die meisten Leute natürlich nicht. Ich kenne wirklich fast niemanden, der damit keine Probleme hat“, erzählt Kerstin. Wichtig sei aber, wie man damit umgehe. „Man sollte versuchen herauszufinden, woher das kommt. In die eigene Beziehungsgeschichte schauen, in den eigenen Bindungsstil und so weiter. Das ist wirklich eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, wie man tickt.“



Philosophische Sicht auf die Liebe


Für Kolja ist Polyamorie mehr als ein Lebensstil. Es ist ihn auch eine Frage der Ethik, sich nicht vorschreiben zu lassen, wie er einen Menschen zu lieben hat, geschweige denn, wie viele er zu lieben hat. Die Regeln in seinen Beziehungen legt er selbst gemeinsam mit seinen Partnerinnen fest, ohne sich dabei an Vorlagen oder bereits existierenden Modellen festzuhalten. Deshalb bezeichnet er sich als Beziehungsanarchisten. „Ich versuche, es meinen Partnerinnen leicht zu machen wegzugehen. Nicht, weil ich scharf drauf bin, dass sie weggehen. Ich möchte gerne ganz, ganz lange mit denen zusammenbleiben. Aber ich glaube, dass das Ja, das ich von ihnen bekomme, dann mehr wert ist. Das bedeutet mir mehr, auch wenn ich dann mal eine Partnerin verliere.“


Kolja im Online-Interview mit amrand.at


Für ihn ist es wichtig, dass alle Beteiligten ihre Bedürfnisse stillen und ihren Interessen nachgehen können. „Und dann muss ich auch akzeptieren, dass sich diese Interessen nicht immer mit meinen decken.“ Er sieht den Anspruch der Monogamie kritisch, dass "ich in einer monogamen Beziehung allein dafür verantwortlich bin, dass mein Partner glücklich ist.“ Stattdessen legt er bei jeder neuen Beziehung fest, wie eng sie ist und was davon erwartet wird. „Wenn die Liebe nicht groß genug ist, um gemeinsam ein Haus zu bauen, dann bauen wir eben kein Haus zusammen.“ Gerade weil die Beziehungen so flexibel und vielfältig sind, ist aber wichtig, dass die Vereinbarungen eingehalten werden, „eben weil du keinen Schiedsrichter hast, der von außen draufschaut.“



Kurze Geschichte der vielfachen Liebe


Die Forschung ist sich relativ einig, dass der Mensch ursprünglich polyamor gelebt hat. Monogamie ist vermutlich erst entstanden, als die Menschen sesshaft geworden sind und begonnen haben, Landwirtschaft zu betreiben. Die Menschengruppen wurden immer größer und die Bindungen wurden immer weniger - dafür aber auch enger und exklusiver. Warum genau die Menschen diesen neuen Beziehungsstil angenommen haben, darüber gibt es Streitigkeiten. Eine Erklärung ist zum Beispiel, dass die Menschen nun mehr Besitz hatten und diesen eben nur an die eigenen Kinder weitergeben wollten. Es wurde also wichtig, wer die Eltern welchen Kindes sind. In einer polyamoren Gesellschaft ohne Vaterschaftstests lässt sich das schwer feststellen.


In vielen Kulturen war es aber noch viel länger völlig normal, dass die Menschen auch außerhalb ihrer festen Partner*innenschaft sexuelle und/oder romantische Kontakte hatten. Im alten Ägypten durften Männer so viele Frauen heiraten wie sie wollten. Das ist heute immer noch möglich, aber es kommt sehr selten vor. Im antiken Griechenland konnte ein Mann zwar nur eine Frau heiraten, aber die allermeisten hatten auch außereheliche Beziehungen, mit denen nicht hinterm Berg gehalten wurde.


Polyamorie hat lange Geschichte und ist in einigen Kulturen noch immer die Norm (c) Pixabay


In manchen arabischen Kulturen ist es bis heute normal, dass ein Mann mit mehreren Frauen verheiratet ist. Der Koran erlaubt Ehen mit bis zu vier Frauen, die alle gleichberechtigt sein müssen. Mit mehreren Menschen verheiratet zu sein, wird als Polygamie bezeichnet. In Österreich und Deutschland ist das, wie gesagt, nicht erlaubt bzw. wird nicht gesetzlich anerkannt. In Österreich besteht die eheliche Treuepflicht. Das bedeutet aber nicht, dass verheiratete Menschen nicht polyamor leben können. Wenn die Ehepartner*innen miteinander vereinbaren, dass sie polyamor leben möchten, ist das in Ordnung – und kann auch in einem Scheidungsverfahren nicht als Eheverfehlung vorgebracht werden.



Das Standardmodell hinterfragen


Ob Polyamorie für die eigenen Vorstellungen von Liebe und Beziehungen passend ist, kann nur jede*r für sich definieren. Kolja und Kerstin würden sich aber wünschen, dass mehr Menschen zumindest über diese Möglichkeit nachdenken und Monogamie als Standardmodell hinterfragen. Kerstin erklärt das so: „Ich bin in vielen – oder vielleicht sogar in allen – Bereichen des Lebens dafür, dass man sich erst mal einen Überblick darüber verschafft, was es alles gibt, und sich ausprobiert, und dann herausfindet, was einem selber liegt und was man selber möchte.“

bottom of page