Anjo werden bei seiner Geburt die Merkmale einer Frau zugeschrieben, obwohl er sich wie ein Mann fühlt. Er ist gefangen im falschen Körper. Je älter er wird, desto schlimmer wird es. Schließlich entscheidet er sich für eine Hormonbehandlung.
TEXT, FOTOS & VIDEO: CHIARA SWATON
Es ist der 22. Oktober 2018. Ein entscheidendes Datum für den 19-jährigen Anjo, der mit seiner Mutter in der Praxis seines Hausarztes sitzt. Aufgeregt wippt er mit dem Fuß, während ihm seine erste Testosteronspritze verabreicht wird. Etwa zehn Sekunden dauert das Ganze. Ein kurzer Moment, den er sich schon lange herbeigesehnt hat. Denn Anjo ist female-to-male, kurz FTM trans. Das bedeutet, dass er sich nicht in dem weiblichen Geschlecht wiedererkennt, in das er hineingeboren wurde. Er ist eigentlich ein Mann.
Bereits im Kindergarten kleidet er sich burschikos, zieht lieber Hosen statt Kleider oder Röcke an. Wenn er mit seiner Zwillingsschwester Irina spielt, dann schlüpft er in die männliche Rolle und sie in die weibliche. Aus Volksschulzeiten gibt es ein Foto von den beiden, auf dem sie in die Kamera lächeln und ähnliche T-Shirts tragen. Das von Irina ist rosa mit dem Schriftzug "Dinoforscherin", während Anjo ein blaues trägt und ein "Dinoforscher" ist. "Da war ich echt stolz, das war ein Geschenk von meinem Onkel", erinnert er sich. "Das ist sehr stereotypisch und natürlich ist nicht jedes Mädchen trans, nur weil es sich wie ein Junge anzieht. Aber in meinem Fall waren das schon frühe Anzeichen, glaube ich. Ich wusste es irgendwie schon, obwohl ich noch nicht die Worte dafür hatte."
Mit Beginn der Pubertät fühlt sich Anjo immer unwohler in seinem Körper, der zunehmend femininer wird. "Da konnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen, weil ich mir gedacht habe, das bin nicht ich. Das ist nicht so, wie ich sein will." Er ist unglücklich und verloren, schneidet sich die Haare kurz. Ihm wird klar, dass er in seinem Geburtsgeschlecht nicht heterosexuell ist – und dass er sich mit diesem Geschlecht überhaupt nicht identifizieren kann.
Social Media als Aufklärungsunterricht
Als er in die Oberstufe kommt, stößt er im Internet auf den Begriff "Transgender". Er findet heraus, dass es mögliche Lösungen für seine Situation, für sein Problem, gibt. In den folgenden Wochen und Monaten lernt er viel durch die sozialen Medien, besonders durch Instagram und YouTube. Vor allem Trans-Männer aus dem englischsprachigen Raum, die in ihren Videos und Beiträgen offen über das Thema sprechen, geben ihm in dieser Zeit viel Kraft. Er merkt, dass er nicht allein ist.
Mit 16 nimmt Anjo all seinen Mut zusammen und outet sich bei seiner Schwester, zu der er immer schon eine enge Bindung hatte, als trans. Seinen Eltern erzählt er etwas später davon. Während seine Mutter ziemlich überrascht reagiert, hat es sein Vater schon "kommen sehen". "Meine Mama hat am Anfang noch etwas gehadert, aus Sorge darüber, was ich vorhabe. Immerhin hat sie mich als gesundes Mädchen geboren und aufgezogen", erklärt Anjo. Für beide Eltern ist es eine große Umstellung, dass er seinen Körper stark verändern will. Doch sie zeigen sich verständnisvoll, wollen ihn auf seinem Weg unterstützen – und gehen selbst zu Infoveranstaltungen der Familien- und Sexualberatungsstelle Courage, die unter anderem über Transidentität aufklärt.
"Ich würde mir wünschen, dass die Welt offener wird und man in der Schule lernt, dass es so etwas gibt. Kein Elternteil freut sich, dass sein Kind trans ist, weil das nicht lustig ist. Aber wenn man es ist, braucht man Informationen. Die sollte man sich nicht von Social Media holen müssen."
Slideshow: Anjo und seine Zwillingsschwester Irina hatten schon immer eine besondere Beziehung zueinander.
Langes Warten auf die erste Spritze
Anjo beschließt, eine Transition, also geschlechtsangleichende Maßnahmen, vorzunehmen. Die Hormonbehandlung ist hier die entscheidende Weichenstellung für eventuelle spätere operative Eingriffe. So soll eine möglichst ausgeprägte körperliche Vermännlichung herbeigeführt werden. Doch bis zur Verabreichung der ersten Testosteronspritze ist es noch ein langer Weg: Anjo muss zuerst eineinhalb Jahre lang eine Psychotherapie machen. Es geht darum, abzuklären, ob die Hormontherapie die richtige Entscheidung ist.
"Ich wurde oft gefragt, ob ich nicht denke, dass es nur eine Phase ist. Aber in meinem Fall wusste ich zu 100 Prozent, dass ich trans bin."
Um mit der Behandlung zu beginnen, braucht er eine klinisch-psychologische, eine psychotherapeutische und eine psychiatrische Stellungnahme. Eine langwierige Geschichte: Bis man die Stellungnahmen bekommt, gibt es oft monatelange Wartezeiten bei Ärzt*innen. "Irgendwann ist man dann sehr ungeduldig, aber es geht vorbei." Teilweise wird Anjo mit Fragen gelöchert, die ihm ziemlich unangenehm sind – auch wenn er es nachvollziehen kann. Oft muss er sich erklären und glaubhaft erzählen, dass er sich wie ein Mann fühlt und auch so aussehen will. Wenn er etwa erwähnt, dass er hin und wieder trotzdem gerne Nagellack trägt, kommt die Frage: "Aber das ist doch was für Mädchen, warum willst du das überhaupt machen?" In dieser Zeit fühlt er sich sehr einsam. Er hat das Gefühl, niemand versteht ihn wirklich.
Der Beginn eines neuen Lebens
Nachdem Anjo die drei Gutachten erhalten halt, muss er ins AKH in Wien auf die Transgender-Ambulanz gehen, um sich einigen körperlichen Untersuchungen zu unterziehen. Dort fühlt er sich gut aufgehoben und verstanden. Er erhält endlich grünes Licht für den Beginn der Hormonbehandlung. Für ihn ist die erste Injektion mit Testosteron "wie Weihnachten und Geburtstag auf einmal". Manchmal dachte er, er würde es nie erleben.
"Wie ich dann vom Arzt nach Hause gekommen bin, hatte ich so ein Kribbeln im ganzen Körper. Ich habe mich irgendwie wie Captain America gefühlt, der das Super-Soldier-Serum bekommt."
Anjo wird nie den Tag vergessen, an dem er seine erste Hormonspritze bekam.
Die ersten Veränderungen bemerkt Anjo nach einigen Monaten im Intimbereich. Durch die Hormontherapie verändert sich nämlich die Klitoris, sie wird größer. Ansonsten ist es wie die natürliche Pubertät eines Jungen: Er bekommt Akne und kommt in den Stimmbruch. Nach einem halben Jahr beginnt langsam ein Bart zu wachsen und die Körperbehaarung nimmt stark zu. Als Anjo mit der Behandlung beginnt, outet er sich auch in seiner Maturaklasse. Er ändert seinen Personenstand, also sein Geschlecht, und wird durch den geänderten Eintrag im Personenstandsregister offiziell als Mann anerkannt. Auch seinen Namen ändert er auf Anjo – seinen alten will er hier lieber nicht lesen. Von nun an bittet er seine Bekannten, ihn mit dem neuen Namen und dem Pronomen "er/sein" anzusprechen.
Im Februar dieses Jahres lässt sich Anjo in der Rudolfstiftung in Wien die weibliche Brust entfernen. "Nach den Hormonen war das die beste Entscheidung, die ich je gemacht habe und ich bin sehr, sehr glücklich mit dem Ergebnis", erzählt er voller Freude. Heute ist er 21 Jahre alt und rund zwei Jahre auf Hormonen. Mittlerweile bekommt er die Testosteronspritze alle drei Monate verabreicht. Das sind längere Abstände als früher – im ersten halben Jahr hat er sie etwa jedes Monat bekommen. Fragt man Anjo nach seiner Sexualität, so lässt er sich ungern in eine Schublade stecken: "Als ich noch jünger und nach außen hin eine Frau war, habe ich gemerkt, dass ich auf Mädchen stehe und nicht auf Jungs. Vielleicht ist es dadurch, dass ich mich jetzt wohler fühle, aber ich bin recht offen. Also ich würde mich als bisexuell oder als pansexuell beschreiben, wenn ich mich labeln müsste."
Das Gefühl von Freiheit
Der nächste Schritt für ihn wäre eine geschlechtsangleichende Operation. Kein einfaches Unterfangen, da es doch ein sehr schwerer Eingriff mit mehreren Einzelschritten und vielen Risiken ist. Hierbei unterscheidet man zwischen dem großen und dem kleinen Aufbau: Bei der Phalloplastik, dem großen Aufbau, wird die Form des Penis durch eine Vollhauttransplatation hergestellt, wobei die Haut samt Nerven und Blutgefäßen meist aus dem Unterarm entnommen wird. Bei der Metoidioplastik, dem kleinen Aufbau, wird anhand der durch das Testosteron vergrößerten Klitoris ein kleiner Penis, etwa zwischen vier und acht Zentimetern, geformt.
Seit mittlerweile zwei Jahren ist Anjo auf Hormonen.
Für Anjo kommt wahrscheinlich nur der kleine Aufbau in Frage, da ihm der große zu riskant ist: "Oft kommt es vor, dass man dann nichts mehr fühlt oder man noch eine Erektionspumpe braucht. Ich weiß nicht, ob ich so viele Sachen in meinem Körper haben will, die nicht zu meinem Körper gehören." Generell liegt die Operation für ihn noch in fernerer Zukunft. "Irgendwann möchte ich es schon machen, aber fürs Erste habe ich genug von Spitälern", sagt er und lacht.
Heute ist Anjo wesentlich glücklicher als früher. "Ich hätte schon viel früher etwas sagen sollen. Es gab schon schlimme Zeiten. Aber ich bin froh, dass es mir jetzt viel besser geht und ich glücklich bin und sein darf."
Seine Zwillingsschwester Irina, die ihm an diesem kalten Novembertag auf einer Parkbank gegenübersitzt, sagt zu ihm: "Du warst für mich immer schon der Anjo, in deinem Wesen hast du dich ja nicht verändert. Ich habe dich, glaube ich, nie als meine Schwester angesehen, sondern einfach als meinen liebsten Menschen."
Daten & Fakten
Weder in seinem direkten Umfeld noch bei seinen zahlreichen Arztbesuchen musste Anjo Diskriminierung erfahren. Er erinnert sich jedoch an eine Situation, in der Jugendliche ihn beschimpft haben, als er im Pride Month mit einem Regenbogen-T-Shirt unterwegs war. Generell kommt Transphobie aber häufig vor – sowohl im Privatleben als auch in der Arbeitswelt und im Gesundheitswesen. Die Diskriminierung reicht von Ablehnungen und Belästigungen bis hin zu Gewalt.
Laut einer Befragung scheint die eigene Familie für transgeschlechtliche Jugendliche in vielen Fällen kein sicherer Ort zu sein: 63,5 Prozent gaben an, dass ihre Familie ihre Geschlechtsidentität nicht ernst genommen hat. Eine andere Studie zeigt, dass 39 Prozent der befragten Trans-Personen am Arbeitsplatz Ausgrenzung oder Kontaktabbruch erlebt haben. Und erst vergangenen Juni wurde etwa in den USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump der Schutz von Trans-Personen gegen Diskriminierung im Gesundheitswesen zurückgenommen.
Ein weiteres Problem in Österreich, das laut Universitätsprofessor und Mediziner Christian Egarter durch die Coronaviruskrise noch verstärkt wird, ist, dass die Transgender-Ambulanz des AKH Wien an ihre Kapazitätsgrenzen stößt. Im Jahr 2019 wurden in der Transgender-Ambulanz 731 Frau-zu-Mann Personen und 681 Mann-zu-Frau-Personen mit gegengeschlechtlicher Therapie kontrolliert.
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